Recht und Wissenschaft in Österreich

EuGH: Tatsächliches Familienleben ist keine Voraussetzung für ein Familienverfahren


Mit Urteil vom 9. September 2021, C-768/19, Rechtssache SE entschied der EuGH über ein Vorabentscheidungsersuchen des deutschen Bundesverwaltungsgerichts in einem Rechtsstreit zwischen SE, einem afghanischen Staatsangehörigen, und der Bundesrepublik Deutschland wegen der Weigerung der deutschen Asylbehörde (BAMF), SE im Rahmen des deutschen „Familienverfahrens“ subsidiären Schutz zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinem Sohn zuzuerkennen.

Der Sohn von SE war im Jahr 2012 im Alter von 14 Jahren nach Deutschland gelangt, hatte um internationalen Schutz angesucht und im Laufe des Jahres 2016 subsidiären Schutz erhalten (zu diesem Zeitpunkt war er gerade 18 Jahre alt geworden). SE kam Anfang des Jahres 2016 nach Deutschland und beantragte zunächst formlos internationalen Schutz. Sein Sohn war damals noch minderjährig. Einen förmlichen Antrag brachte SE schließlich nach dem 18. Geburtstag seines Sohnes ein (das deutsche Recht unterscheidet zwischen formlosen und förmlichen Asylanträgen). Sein Antrag wurde zur Gänze abgelehnt; er bekämpfte die Entscheidungen bis zum deutschen Höchstgericht. Im Wesentlichen ging es SE darum, im deutschen „Familienverfahren“ denselben Schutzstatus zu erhalten, den auch sein Sohn bekommen habe.

Das deutsche Bundesverwaltungsgericht hatte Zweifel, ob SE noch als Vater eines „Minderjährigen“ im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) anzusehen sei, weil sein Sohn im Zeitpunkt der förmlichen Antragstellung von SE die Volljährigkeit bereits erlangt hatte. Es stellte auch zur Diskussion, ob für die Anerkennung von SE als „Familienangehörigen“ eines Schutzberechtigten die tatsächliche Aufnahme eines Familienlebens mit seinem Sohn in Deutschland erforderlich sei oder nicht, und es wollte wissen, ob die Begünstigungen, die ihm als „Familienangehöriger“ eines Schutzberechtigten allenfalls zukommen könnten, mit der Volljährigkeit seines Kindes erlöschen.

Der EuGH sprach nun aus, dass es für die Frage, ob der Sohn als „minderjährig“ im Sinne von Art. 2
lit. j der Statusrichtlinie anzusehen sei, auf den Zeitpunkt der – gegebenenfalls auch nur formlosen – Antragstellung seines Vaters SE ankomme. Eine tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens zwischen SE und seinem Sohn sei nicht zu verlangen. Die Begünstigungen für Familienangehörige des eines Schutzberechtigten (Bezugsperson) würden auch nach Eintritt der Volljährigkeit der Bezugsperson fortbestehen.

Zu der – in einem weiteren anhängigen deutschen Vorabentscheidungsverfahren aufgeworfenen – Frage, ob und in welchem Umfang das nationale Recht nach den Vorgaben der Statusrichtlinie (insbesondere nach der Günstigkeitsklausel des Art. 3 Statusrichtlinie) ein Familienverfahren überhaupt vorsehen dürfe, äußerte sich der EuGH in diesem Urteil nicht.

Bearbeitet von: Mag. Peter Nedwed


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