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VfGH 16.12.2021, E 4227/2021: Neue Rechtsprechung zu Afghanistan wird beibehalten

3. Februar 2022 in Rechtsprechung
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Der VfGH bleibt bei seiner Einschätzung betreffend die grundrechtlichen Grenzen der Zulässigkeit von Rückführungen nach Afghanistan.

Der VfGH hat sich (aus Anlass von Beschwerden gegen im Sommer 2021 ergangene Entscheidungen des BVwG) in E 3047/2021 und E 3445/2021 mit den Konsequenzen der im ersten Halbjahr 2021 eingetretenen Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan näher auseinandergesetzt (vgl. weiterführend hier). Im Herbst 2021 hat das BVwG abermals Beschwerden gegen vollinhaltlich negative Asylentscheidungen von afghanischen Staatsangehörigen abgewiesen.

Mit Erkenntnis vom 16. Dezember 2021, E 4227/2021, gab der VfGH der Beschwerde gegen ein Erkenntnis des BVwG vom 12. Oktober 2021 hinsichtlich der Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (sowie der darauf aufbauenden Folgeabsprüche) statt und hob das Erkenntnis wegen der Verletzung des Beschwerdeführers in seinen durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechten auf.

Das BVwG hatte im Hinblick auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auf E 3047/2021 und E 3445/2021 sowie auf die UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan vom August 2021 Bezug genommen. Es war davon ausgegangen, dass die Ausführungen von VfGH und UNHCR „im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den Kampfhandlungen vom Juli bzw. August 2021 ergangen“ und daher im Entscheidungszeitpunkt des BVwG „schon wieder als ‚überholt‘ zu betrachten“ seien. Das BVwG hatte zudem – unter Verweis auf Berichte der Medien orf.at und tagesschau.de – ausgeführt, dass sich „die Sicherheitslage in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban wieder zu beruhigen scheint“ und die Taliban bemüht seien, „geschlossen gegen den IS vorzugehen“. Eine finanzielle Unterstützung des Beschwerdeführers durch seine im Herkunftsstaat lebenden Familienangehörigen sei „vorstellbar“, zumal sich deren Situation nicht verschlechtert habe. Die Machtübernahme durch die Taliban stelle nach Ansicht des BVwG „keinen Grund für eine de facto automatische Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung“ dar. Eine Verschlechterung der allgemeinen Versorgungslage sei zwar nicht auszuschließen. Jedoch müssten „die Taliban“ schon auf Grund „pragmatischer Erwägungen“ auf gefestigte Strukturen aufbauen, die von der Vorgängerregierung geschaffen wurden, weshalb Länderberichte, die die Versorgungslage „vor der Machtübernahme der Taliban“ schilderten, auch im Entscheidungszeitpunkt des BVwG noch als hinreichend aktuell anzusehen seien.

Der VfGH weist auf die extreme Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan hin und geht vor dem Hintergrund der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 (weiterhin) davon aus, dass jedenfalls eine Situation vorliegt, in der Rückkehrer nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung ihrer verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt wären. Angesichts der aktuellen Berichtslage, wonach die Lage in Afghanistan (nach wie vor) volatil bleibe (vgl. zB EASO November 2021), sieht sich der VfGH nicht veranlasst, von dieser (in E 3445/2021 vertretenen) Auffassung abzugehen. Überdies erschöpfe sich die Auseinandersetzung des BVwG mit der Sicherheitslage in Afghanistan in der Bezugnahme auf Medienberichte zu einzelnen Sicherheitsaspekten (insbesondere der vom IS ausgehenden Terrorgefahr). Hinweise auf willkürliche Kontrollen und Bestrafungen bis hin zu gezielten Hinrichtungen werden beispielsweise nicht thematisiert, obwohl sie sich in den im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Länderberichten finden. Auch die Einschätzung des BVwG in Bezug auf die Versorgungslage ist für den VfGH mit Blick auf die aktuelle Berichtslage, nach der im Winter fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung auf humanitäre Hilfeleistungen angewiesen sei, um zu überleben, nicht nachvollziehbar.

Bearbeiter: Dr. Johannes Schön


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