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VfGH: Neue Rechtsprechung zu Afghanistan


Der VfGH hat sich in jüngst ergangenen Erkenntnissen mit den Konsequenzen der Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan auseinandergesetzt.

Mit Erkenntnis vom 24. September 2021, E 3047/2021, gab der VfGH der Beschwerde eines afghanischen Staatsangehörigen gegen ein Erkenntnis des BVwG vom 1. Juli 2021 hinsichtlich der Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (sowie der darauf aufbauenden Spruchpunkte) statt und hob das Erkenntnis insoweit wegen einer Verletzung des Beschwerdeführers in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander auf (im Übrigen wurde die Beschwerde abgelehnt).

In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ging das BVwG im Wesentlichen davon aus, dass die Sicherheitslage in Afghanistan einer Rückkehr nicht entgegenstehe und verwies den – in der Provinz Kabul geborenen und aufgewachsenen – Beschwerdeführer auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif. Das BVwG hält die mit dem angekündigten US-Truppenabzug einhergehenden Gefahren für „reine Spekulation über mögliche zukünftige Entwicklungen“, geht davon aus, dass die Neuansiedlungsorte „derzeit“ nicht unter der Kontrolle der Taliban stünden und erkennt in den vom Beschwerdeführer beschriebenen Entwicklungen „keine rechtserheblichen Sachverhaltsneuerungen“.

Der VfGH verweist auf die im Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG verfügbaren Länderinformationen, insbesondere auf das – vom BVwG seinen Feststellungen zugrunde gelegte – Länderinformationsblatt vom 11. Juni 2021, sowie auf die breite mediale Berichterstattung über die Entwicklungen in Afghanistan. Das BVwG musste nach Ansicht des VfGH davon ausgehen, dass die Sicherheitslage in Afghanistan als extrem volatil einzustufen ist. Vor diesem Hintergrund war das BVwG verpflichtet, das Vorliegen einer realen Gefahr einer Verletzung des Art. 2 oder 3 EMRK bei einer Rückkehr des Beschwerdeführers angesichts der sich nahezu täglich ändernden Situation in der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung und ihren Truppen eingehend auch im Hinblick auf die laufende Entwicklung zu prüfen. Dieser Verpflichtung genügt das BVwG in dieser besonderen, durch eine extreme Volatilität auf Grund einer sich äußerst rasch verändernden Sicherheitslage gekennzeichneten Situation nicht, wenn es momentbezogen eine kriegerische Auseinandersetzung an bestimmten Orten verneint, ohne die ernsthafte Bedrohung durch eine nachvollziehbar befürchtete, landesweit bereits teilweise tatsächlich eingetretene und möglicherweise auch an den vom BVwG für eine Rückkehr des Beschwerdeführers in Betracht gezogenen Orten unmittelbar bevorstehende wesentliche Verschlechterung der Sicherheitslage mit in den Blick zu nehmen. Indem das BVwG ausschließlich momentbezogen von einer im Hinblick auf Art. 2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation ausgegangen ist, hat es sein Erkenntnis in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (sowie die darauf aufbauenden Spruchpunkte) mit Willkür belastet.

Mit Erkenntnis vom 30. September 2021, E 3445/2021, gab der VfGH der Beschwerde eines afghanischen Staatsangehörigen gegen ein Erkenntnis des BVwG vom 29. Juli 2021 hinsichtlich der Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (sowie der darauf aufbauenden Folgeabsprüche) statt und hob das Erkenntnis wegen einer Verletzung des Beschwerdeführers in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art. 2 EMRK sowie im Recht gemäß Art. 3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, auf (im Übrigen wurde die Beschwerde abgelehnt).

Das BVwG hatte die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Wesentlichen mit der Begründung für nicht gegeben erachtet, dass dem Beschwerdeführer in den Städten Herat und Mazar-e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe, diesem die Neuansiedlung in diesen Städten auf Grund seiner persönlichen Umstände zumutbar sei und auch die – im Entscheidungszeitpunkt allein maßgebliche – Sicherheitslage einer Rückkehr des Beschwerdeführers nicht entgegenstehe. Hinsichtlich allfälliger künftiger Änderungen der Sicherheitslage wies das BVwG darauf hin, dass die Vollzugsbehörde verpflichtet sei, bei der Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme Art. 3 EMRK insbesondere auch im Hinblick auf die aktuelle Lage im Herkunftsstaat zu beachten.

Nach Auffassung des Gerichtshofes war auf Grundlage der im angefochtenen Erkenntnis abgedruckten (und behandelten) länderberichtlichen Informationen vom 11. Juni 2021, insbesondere aber auf Grund der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 (und der zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichts verfügbaren, breiten medialen Berichterstattung) spätestens ab 20. Juli 2021 von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan und damit von einer Situation auszugehen, die den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art. 2 und 3 EMRK aussetzen würde. Indem das BVwG somit am 29. Juli 2021 noch von einer im Hinblick auf Art. 2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers ausgegangen sei, verstoße das Erkenntnis (hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der darauf aufbauenden Folgeabsprüche) gegen Art. 2 und 3 EMRK.

Zudem gab der VfGH (nach Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung am 18. August 2021) mit Erkenntnis vom 24. September 2021, E 3115/2021, der Beschwerde eines afghanischen Staatsangehörigen gegen ein Erkenntnis des BVwG vom 4. August 2021 statt und erkannte in der (fortgesetzten) Anhaltung in Schubhaft eine Verletzung im Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit).

Der EGMR hatte (im Verfahren betreffend die Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes) am 2. August 2021 eine vorläufige Maßnahme erlassen und angeordnet, dass der Beschwerdeführer bis zum 31. August 2021 nicht außer Landes gebracht werden soll. Das BVwG ging (zwei Tage später) dennoch davon aus, dass mit einer zeitnahen Abschiebung des Beschwerdeführers zu rechnen sei und verwies begründend u.a. auf die zeitliche Befristung der vorläufigen Maßnahme des EGMR.

Nach Ansicht des VfGH lässt das BVwG in seiner Entscheidung eine nachvollziehbare Auseinandersetzung damit, ob eine zeitnahe Abschiebung des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Afghanistan tatsächlich realisierbar und somit die Anhaltung in Schubhaft verhältnismäßig ist, vermissen. Das BVwG hätte nach dem Erlass der vorläufigen Maßnahme gemäß Art. 39 der Verfahrensordnung des EGMR zumindest von einer maßgeblichen Relativierung des Sicherungsbedarfs unter dem Blickwinkel des Art. 3 EMRK und damit von einer möglichen Unverhältnismäßigkeit der weiteren Anhaltung ausgehen müssen. Angesichts der verfügbaren Länderinformationen, die zum Entscheidungszeitpunkt eine extreme Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan indizierten, sowie der Erlassung der vorläufigen Maßnahme durch den EGMR am 2. August 2021 hätte das BVwG davon ausgehen müssen, dass eine zeitnahe Abschiebung des Beschwerdeführers mit Blick auf die Vorgaben des § 50 Abs. 1 FPG bzw. auf Grund der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK nicht möglich sein wird.

Bearbeitet von: Dr. Martina Lais und Dr. Johannes Schön


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