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BVwG: Aussetzung des Verfahrens bezüglich Erlassung einer Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung des EuGH in den Rechtssachen Rs C-608/22 und C-609/22

BVwG 28.10.2022, W255 2261428-1/3Z


Die Beschwerdeführerin (BF), eine afghanische Staatsangehörige, stellte am 20.12.2021 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 13.09.2022 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Der Beschwerdeführerin wurde jedoch der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres erteilt.

Nach Beschwerdeerhebung gegen Spruchpunkt I. wurde das Verfahren durch das BVwG gemäß § 38 AVG iVm § 17 VwGVG bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14.09.2022, Ra 2021/20/0425 und Ra 2022/20/0028, vorgelegten Fragen ausgesetzt.

Zur Aussetzung wurde ausgeführt, dass der Verwaltungsgerichtshof mit Beschlüssen vom 14.09.2022, Ra 2021/20/0425 und Ra 2022/20/0028, dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt habe:

  1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen
  • die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,
  • keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,
  • allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,
  • einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,
  • der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,
  • der Zugang zu Bildung – gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) – verwehrt wird,
  • sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,
  • ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,
  • keinen Sport ausüben dürfen,

im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?

  1. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen – in ihrer Kumulierung zu betrachtenden – Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“

Vom BVwG wurde ausgeführt, dass es sich bei der BF um eine afghanische Staatsangehörige handle, somit um eine Person, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Staatsangehörigkeit und der zum Entscheidungszeitpunkt vorherrschenden Situation in ihrem Herkunftsstaat den vom Verwaltungsgerichtshof oben zitierten Maßnahmen zum Teil ausgesetzt sein könnte. Die BF sei nicht mehr im erwerbsfähigen Alter und werde ihr Lebensunterhalt in finanzieller Hinsicht von ihrem in Österreich lebenden Sohn gesichert, weshalb die BF von mehreren in der Vorabentscheidung genannten Maßnahmen betroffen wäre.

Die beiden im Vorabentscheidungsverfahren gestellten Fragen seien im gegenständlichen Fall maßgeblich.

Die Beantwortung der zweiten Frage sei im gegenständlichen Beschwerdeverfahren insofern von besonderer Relevanz, als es sich bei der BF um eine siebzigjährige, verwitwete Frau handle, die sich nicht mehr im erwerbsfähigen Alter befinde, von ihrem Sohn in finanzieller Hinsicht erhalten werde, in Afghanistan noch nie – auch nicht aufgrund ihres Geschlechts – bedroht oder verfolgt worden sei, niemals Probleme mit Behörden ihres Herkunftsstaates gehabt habe, nie politisch tätig gewesen sei oder sein wolle und bei der es sich nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau handle, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sei und/oder ein entsprechendes Verhalten an den Tag lege. Sie habe zudem nie behauptet, die traditionellen sozialen Normen in ihrem Herkunftsstaat abzulehnen.

Die BF habe auch sonst keine Fluchtgründe vorgebracht, weshalb mangels vorliegender „westlicher“ Orientierung im konkreten Fall nur dann die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten in Betracht käme, würde der Gerichtshof der Europäischen Union die erste an ihn gestellte Frage bejahen. Weiters sei insbesondere angesichts der individuellen Situation der BF auch die Beantwortung der zweiten an den Gerichtshof der Europäischen Union gestellten Frage, inwiefern alleine das Geschlecht maßgeblich, oder die Prüfung der individuellen Situation erforderlich sei, für die Frage der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten im gegenständlichen Beschwerdeverfahren maßgeblich.

 

Siehe demgegenüber eine anderslautende Entscheidung vom 14.11.2022, W220 2231016-1/9E.

 

Zusammengefasst von: Mag.a Yasmin Ponesch


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