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Die relevante Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsgefahr

18. September 2025 in Beiträge
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Tags: Glaubhaftmachung, Verfolgungsgefahr

Mag. Markus Kainradl

Mag. Markus Kainradl ist Jurist in der Rechtsabteilung von UNHCR Österreich. Er referiert regelmäßig zu verschiedenen Themenbereichen des internationalen Asylrechts und leitet Fortbildungsveranstaltungen für Richter:innen, Referent:innen und Rechtsberater:innen.


Die Schwelle der Glaubhaftigkeit scheint aufgrund der Formulierungen des AsylG 2005 nicht nur für Angaben zu vergangenheitsbezogenen Sachverhaltselementen, sondern auch für die künftig drohende Verfolgung maßgeblich zu sein. Dagegen trennen UNHCR, EUAA, IARMJ und EuGH die Glaubhaftigkeitsbewertung von der Gefahreneinschätzung in zwei Prüfungsabschnitte und legen für die relevante Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer künftigen Verfolgungsgefahr einen vergleichsweise niedrigeren Maßstab an. Auch die Verordnungen der GEAS-Reform kennen das Konzept einer „glaubhaft drohenden Verfolgung“ nicht, weshalb sich die Entscheidungspraxis spätestens Mitte 2026 an die internationalen und europäischen Standards anpassen wird müssen.

3 Abs. 1 AsylG 2005 sieht vor, einem Antragsteller den „Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.” Dass entgegen einem Beweis oder einer Gewissheit „lediglich die Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr verlangt“ wird, leitet der VwGH aus den „Beweisschwierigkeiten“ im Asylverfahren ab. Deshalb muss „die Verfolgung nur mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohen“, die einen „geringeren Grad“ als „die Überzeugung von der Gewissheit“ darstellt, während eine bloß „entfernte Möglichkeit einer Verfolgung“ bzw. „bloß theoretisch denkbare Möglichkeit eines Verfolgungsszenarios“ nicht ausreicht. Laut den Erläuterungen zum AsylG 2005 gilt die Schwelle der Glaubhaftigkeit explizit für das Vorliegen aller „Voraussetzungen des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK“, also sämtlicher Elemente der Flüchtlingsdefinition.

Darüber hinaus wird in Beweiswürdigungen von Asylbescheiden des BFA einleitend vorausgesetzt, dass von Antragsteller:innen eine Furcht glaubhaft gemacht werden müsse. Zur subjektiven Seite der Furcht sei auf die Ausführungen im UNHCR Handbuch Rn. 37 ff verwiesen; es sollte aber jedenfalls klar sein, dass es nicht darauf ankommt, „ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet“ und somit auch keine Glaubhaftmachung dieser Furcht verlangt werden kann. Die GFK schützt auch Personen, die sich im Einzelfall nicht fürchten (können), weil sie zB junge Kinder sind und von der Gefahr nichts wissen oder auch nur aufgrund fehlender Einsichtsfähigkeit (siehe zB Putzer/Rohrböck, Leitfaden Asylrecht, 2007, Rn.49 oder Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol 2e, 2024, Rn.193).

In der Judikatur werden die Begriffe „Glaubwürdigkeit“, „Glaubhaftigkeit“ und „Glaubhaftmachung“ oftmals synonym verwendet, im Wesentlichen ist laut VwGH aber „unter Berücksichtigung der vom EuGH judizierten unionsrechtlichen Anforderungen“ „die Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Asylwerbers zu prüfen“ und „erst danach erfolgt die Prognoseentscheidung gemäß § 3 AsylG 2005, ob mit dem als glaubwürdig erachteten Vorbringen eine wohl begründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht wird“. Die „Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens“ gem. § 18 Abs. 3 AsylG 2005 ist demnach Teil der Beweiswürdigung, wogegen erst danach eine „Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung“ vorzunehmen ist.

Eine ganz ähnliche Unterteilung sehen die Standards von UNHCR, EUAA und der Internationalen Asyl- und Migrationsrichter:innenvereinigung IARMJ vor, die klar zwischen der Prüfung von Beweismitteln/Angaben (evidence/credibility assessment) und der Einschätzung zukünftiger Verfolgungsgefahr (risk assessment) unterscheiden, dabei jedoch andere Maßstäbe anlegen als die österreichische Entscheidungspraxis. Glaubhafte Angaben bilden die Grundlage für Sachverhaltsfeststellungen, während im Anschluss die Beurteilung erfolgt, ob eine zukünftige Verfolgung „vernünftigerweise möglich“ erscheint, damit die objektive Voraussetzung der begründeten Furcht erfüllt ist („reasonable degree of likelihood“ bzw. „reasonably possible“). Ebenso unterteilt der EuGH die Prüfung in „zwei getrennte Abschnitte“: „Die Feststellung der Ereignisse und Umstände […], die Beweise zur Rechtfertigung des Asylantrags darstellen können“, und „die Würdigung der Folgen […], die aus den zur Begründung des Antrags vorgetragenen Anhaltspunkten abzuleiten sind, indem bestimmt wird, ob die für die Gewährung des beantragten internationalen Schutzes erforderlichen Voraussetzungen damit tatsächlich erfüllt werden“.

Glaubhaftigkeit ist demnach nicht für die künftige Verfolgungsgefahr maßgeblich, sondern nur für vergangene und gegenwärtige Sachverhaltselemente, die sich aus Angaben und Beweismitteln ergeben. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit entscheidungsrelevanter Angaben erfolgt durch eine Abwägung interner und externer Indikatoren. Sofern vorhanden, gelten externe Indikatoren dabei als verlässlicher, wie etwa die Übereinstimmung mit Beweismitteln oder Herkunftslandinformationen. Die vom EuGH regelmäßig angeführte individuelle Lage und die persönlichen Umstände von Antragsteller:innen können die Aussagekraft einzelner interner Indikatoren wie Detailreichtum, Kohärenz und Widerspruchsfreiheit erheblich beeinflussen oder ihre Anwendbarkeit sogar ausschließen. „Kein Indikator ist für sich genommen ein untrügliches Anzeichen der (fehlenden) Glaubhaftigkeit“, jedem einzelnen liegen widerlegbare Annahmen zugrunde und verschiedene Einflussfaktoren können sowohl bei Antragsteller:innen als auch bei Entscheider:innen auftreten. Es sei auch noch darauf hingewiesen, dass im neuen Art. 4 (5) Status-VO (2024/1347) das die Aufzählung der Indikatoren abschließende „und“ gestrichen wurde, weshalb zumindest fraglich ist, ob es sich um „kumulative Voraussetzungen“ für den Fall handelt, dass Aussagen nicht durch Unterlagen oder andere Beweismittel belegt sind. Die sog. „Realkennzeichen“ sollten keinesfalls schematisch angewandt werden und das „Auftreten“ einer Antragsteller:in ist für Glaubhaftigkeitsbeurteilungen einer Aussage gänzlich ungeeignet. Jedenfalls muss die Asylbehörde Antragsteller:innen die Gelegenheit geben, „sich zu fehlenden Angaben und/oder zu Abweichungen oder Widersprüchen […] zu äußern“ (Art. 16 Asylverfahrens-RL (2013/32/EU) und Art. 16 Asylverfahrens-VO (2024/1348)), bevor eine Beurteilung zur Glaubhaftigkeit der Angaben vorgenommen werden kann.

Im Ergebnis führt eine Abwägung der für die Glaubhaftigkeit einer Aussage sprechenden Gründe mit den dagegenstehenden – allenfalls unter Einbeziehung weiterer Beweismittel – zu einer Entscheidung über die „Tatsachen und Umstände“ (Art. 4 Status-RL), die in klaren und eindeutigen Feststellungen über den Sachverhalt ausgedrückt wird. Bleiben im Zuge dieser Prüfung Zweifel bestehen, die einer klaren Tatsachenfeststellung entgegenstehen, ist es notwendig, in Bezug auf die Glaubhaftigkeit der Aussagen zugunsten der Antragsteller:in zu entscheiden. Dieser Zweifelsgrundsatz, der in den einschlägigen Richtlinien von UNHCR und der EUAA näher beschrieben und in der Rechtsprechung des EGMR verankert ist, wird nun auch erstmals (wenn auch mit Einschränkungen) in EG 27 der Status-VO erwähnt.

In Bezug auf die Zukunftsprognose gilt jedoch ein anderer Maßstab, der bewusst niedriger angesetzt ist als die Glaubhaftigkeit, weil es hier einerseits nicht darum geht, sich für die wahrscheinlichere Variante zu entscheiden und andererseits für den Anspruch auf Zuerkennung des Asylstatus auch nicht alle Aspekte des Vorbringens glaubhaft sein müssen. Genauso wenig führen glaubhafte Angaben automatisch zu einem positiven Verfahrensausgang.

Auf einer Vergleichsskala ist die Schwelle der „vernünftigen Möglichkeit“ tiefer anzusetzen als „Gewissheit“, „ohne berechtigten Zweifel“, „erhebliche Wahrscheinlichkeit“ oder „schwerwiegende Gründe“ (siehe zB EUAA Praxisleitfaden S. 110 und UK Home Office S. 59). Die Eintrittswahrscheinlichkeit der Gefahr muss dabei eben nicht überwiegen (nicht „more probable than not“, ebenso EGMR zu Art. 3 EMRK) und Entscheider:innen müssen nicht „glauben“, dass Verfolgung droht, sondern es genügt, dass sie „vernünftigerweise möglich“ ist. Generell ist auch eine Quantifizierung des Risikos unzulässig, da sich die Prüfung immer auf die individuelle Situation der Antragsteller:in unter den gegebenen Umständen im Herkunftsland zu beziehen hat. Nicht mehr relevant wäre jedoch eine bloß „entfernte Möglichkeit“, wie auch in der österreichischen Judikatur beschrieben.

Die Bewertung der Wahrscheinlichkeit beschränkt sich dabei nicht auf den Entscheidungszeitpunkt, sondern erstreckt sich wiederum auf die vernünftigerweise absehbare Zukunft, also einen Zeitraum, in dem bestimmte Ereignisse vernünftigerweise erwartet werden können.

Laut EuGH sollen die Asylbehörden dementsprechend beurteilen „ob die festgestellten Umstände eine Bedrohung darstellen oder nicht, aufgrund deren der Betroffene in Anbetracht seiner individuellen Lage begründete Furcht haben kann, tatsächlich Verfolgungshandlungen zu erleiden“. „Diese Beurteilung der Größe der Gefahr ist in allen Fällen mit Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmen, da Fragen der Integrität der menschlichen Person und der individuellen Freiheiten betroffen sind, die zu den Grundwerten der Europäischen Union gehören.“ Angesichts der möglichen gravierenden Konsequenzen einer Rückkehr in Form von schweren Menschenrechtsverletzungen besteht somit die Notwendigkeit, eine vergleichsweise niedrige Relevanzschwelle für die Wahrscheinlichkeit von Verfolgung anzusetzen. (Zur Relevanz der Möglichkeit, dass eine politische Überzeugung „die nachteilige Aufmerksamkeit potenzieller Verfolger […] erwecken kann oder erweckt haben konnte“ siehe überdies EuGH C-151/22.)

Die österreichische Entscheidungspraxis hat bislang kaum auf die oben dargestellten internationalen und europäischen Standards zur Gefahrenschwelle Bezug genommen. Dies dürfte vor allem auf die Formulierung des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 zurückzuführen sein, der regelmäßig so interpretiert wird, dass die Glaubhaftigkeit nicht nur für vergangene Sachverhalte, sondern auch für die Einschätzung zukünftiger Gefahren maßgeblich ist, oder eine Pflicht zur Glaubhaftmachung sämtlicher Elemente der Flüchtlingseigenschaft durch die Antragsteller:innen angenommen wird. Zudem werden, wie bereits angesprochen, Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit in der Judikatur oft synonym verwendet, obwohl die Begriffe als Persönlichkeitsmerkmal versus Eigenschaft einer Aussage unterschiedliche Bedeutungen haben. All dies zeigt sich etwa in Formulierungen der Höchstgerichte wie „Unglaubwürdigkeit der Angaben“, „Glaubhaftmachung der Angaben“, „Glaubwürdigkeit der Fluchtgründe“, „Glaubhaftigkeit der Fluchtgeschichte“, „Glaubhaftmachung der Gründe für eine gesetzmäßige Feststellung der Flüchtlingseigenschaft iSd FlKonv“, „Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung“, „Glaubwürdigkeit der inneren Überzeugung“, „Unglaubwürdigkeit des Herkunftsortes“, etc. und kulminiert in der „Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens“ im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gem. § 18 Abs. 3 AsylG 2005.

Mit Anwendbarkeit der GEAS-Reform und insbesondere der Status-VO entfalten die entsprechenden Bestimmungen zu inhaltlichen Anspruchsvoraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unmittelbare Wirkung, wodurch § 3 Abs. 1 AsylG 2005 wohl entfallen wird. Wenn nicht bereits auf Grundlage der oben dargestellten EuGH-Judikatur wird sich die derzeit angewandte Schwelle der Glaubhaftigkeit für die Verfolgungsgefahr aus dieser Bestimmung spätestens ab Mitte 2026 wohl nicht mehr aufrechterhalten lassen, weshalb sich die Entscheidungspraxis an die internationalen und europäischen Standards anpassen und eine dementsprechend niedrigere Schwelle für das relevante Verfolgungsrisiko ansetzen sollte.


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