Paradigmenwechsel?
Üblicherweise wird einer Mutter der Asylstatus von ihren minderjährigen Töchtern abgeleitet, sofern diesen im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat FGM droht. Das BVwG setzt sich in einer aktuellen Entscheidung jedoch ausführlich mit der Situation einer Mutter aus Gambia auseinander, die, obwohl sie selbst nicht beschnitten ist und FGM vehement ablehnt, eine drohende Beschneidung ihrer Töchter nicht verhindern kann bzw. diese sogar möglicherweise mitansehen muss und stuft dies als asylrelevante Verfolgung im Sinne der GFK ein. Somit werden der Mutter „eigene“ Fluchtgründe zugebilligt. Dies könnte einen Paradigmenwechsel bedeuten.
FGM in Gambia
FGM ist speziell am afrikanischen Kontinent ein weit verbreitetes Phänomen. Primär wird dieser Begriff mit Staaten wie Somalia, Sudan oder Guinea assoziiert. Allerdings sind in Gambia, dem kleinsten Staat des afrikanischen Festlandes, der etwa mit der Fläche Oberösterreichs vergleichbar ist, ca. 75 % der Frauen von FGM betroffen. Nach den Länderberichten ist eine ablehnende Haltung der Mutter gegenüber FGM keine Garantie dafür, dass ihre Töchter tatsächlich nicht verstümmelt werden. Vielmehr werden Kinder selbst ohne Einwilligung der Eltern zu einer Beschneiderin gebracht. Laut einem der Entscheidung des BVwG zugrunde gelegten Report von UNICEF sind 54 % der Töchter im Alter von 0-14 Jahren von Müttern, die selbst beschnitten sind und diese Praxis ablehnen, dennoch von FGM betroffen. Der im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG anwesende Dolmetscher bestätigte zudem die Befürchtung der Mutter, dass fremde Personen kontrollieren würden, ob ihre Töchter bereits beschnitten seien. Bemerkenswert ist dabei der Umstand, dass in Gambia bereits seit mehreren Jahren ein gesetzliches Verbot von FGM besteht und sich die Anzahl der beschnittenen Frauen dennoch nicht signifikant verändert hat. Der gambische Staat scheint in dieser Hinsicht unfähig, die Praxis von FGM zu unterbinden. Aus diesen Gründen stellt sich die Situation hinsichtlich FGM in Gambia in einem entscheidenden Punkt anders dar als etwa in Somalia, wo es nach den aktuellen Länderinformationen des COI-CMS zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich ist, dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter einer FGM unterzogen werden. Keine Quelle des Danish Immigration Service konnte einen derartigen Fall berichten.
Verfolgungshandlung
Zentraler Aspekt des Flüchtlingsbegriffs der GFK, auf den das österreichische Asylgesetz (AsylG) verweist, ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung, was bedeutet, dass diese objektiv nachvollziehbar sein muss.
Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH ist unter „Verfolgung“ im Sinne der GFK ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. In diesem Zusammenhang sind zudem die Bestimmungen der Statusrichtlinie zu beachten, wonach unter den Begriff der „Verfolgung“ Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, die im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) als notstandsfest gelten. Dazu gehören insbesondere das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) und das Verbot der Folter (Art. 3 EMRK).
Das BVwG geht in seiner Entscheidung den bemerkenswerten Schritt und stuft das möglicherweise Mitansehen-Müssen der Verstümmelung der eigenen Töchter als Verletzung der Mutter in ihren grundlegenden Menschenrechten ein. Dabei geht es meines Erachtens in nachvollziehbarer Weise von einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK aus.
Für das BVwG ist jedoch auch das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK), das nach ständiger Rechtsprechung weit auszulegen ist, einschlägig. Dabei fällt auf, dass es sich um kein notstandsfestes Recht im Sinne des Art. 15 Abs. 2 EMRK handelt. Hierzu ist allerdings explizit festzuhalten, dass die Aufzählung in der Statusrichtlinie („insbesondere“) nicht taxativ ist und somit auch nicht notstandsfeste Rechte „grundlegende Menschenrechte“ darstellen können. Das BVwG erachtet aufgrund der Besonderheit der Umstände des konkreten Falls das nicht notstandsfeste Recht des Art. 8 EMRK als mit einem notstandsfesten Recht im Sinne des Art. 15 Abs. 2 EMRK vergleichbar. Es stützt sich dabei auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH 05.09.2012, Y und Z, C-71/11 und C-99/11) zur Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK), wonach dieses Recht zwar nicht nicht zu den Rechten zählt, von denen gemäß EMRK keine Abweichung zulässig ist, aber „eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft“ darstellt. Daher kann ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichzusetzen ist.
Das BVwG argumentiert meines Erachtens in nachvollziehbarer Weise, dass das Recht auf Privat- und Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK ebenfalls ein „Fundament der demokratischen Gesellschaft“ darstellt und daher der im konkreten Fall drohende Eingriff in dieses Recht, die Beschneidung der Töchter, so gravierend ist, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann. In diesem Zusammenhang erscheint es wohl unstrittig, dass der Wunsch der Mutter, ihre Töchter nach ihren Wertvorstellungen fernab von FGM aufwachsen zu sehen, in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK fällt.
Konnex zur GFK
Um den Status des Asylberechtigten zu erlangen, reicht es jedoch nicht aus, dass es zu einer Verfolgungshandlung kommt, zusätzlich muss ein Konnex zu einem in der GFK taxativ aufgezählten Grund (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) bestehen. Das BVwG stützt sich im konkreten Fall auf die politische Gesinnung der Mutter, weil ihr die die Verfolgungshandlung wegen ihrer vehementen Ablehnung gegenüber den in Gambia vorherrschenden Wertvorstellungen betreffend FGM droht. Denkbar wäre zwar auch eine Anknüpfung an die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der unbeschnittenen Frauen, jedoch handelt es hierbei um einen Auffangtatbestand, der üblicherweise erst dann zur Anwendung gelangt, wenn kein anderer in der GFK genannter Grund einschlägig ist.
Fazit
Im Ergebnis macht es, außer im Falle eines Aberkennungsverfahrens, zwar keinen großen Unterschied, ob einer Mutter, deren minderjährige Töchter von FGM betroffen sein können, der Asylstatus ihrer Töchter abgeleitet wird oder sie diesen Status aufgrund „eigener“ Fluchtgründe erhält. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts erscheint dennoch jedenfalls begrüßenswert, da sie auch einen schwerwiegenden Eingriff in die psychische Integrität einer Mutter als Verfolgungshandlung qualifiziert. Es besteht auch keine Gefahr, dass es durch diese Entscheidung zu einer ungewollten Ausdehnung der Flüchtlingseigenschaft in anderen Verfahren kommt. Denn wenn eine Mutter, auch teilweise mit Unterstützung der Familie, in der Lage ist, ihre Töchter tatsächlich vor FGM zu bewahren, wird weder eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an ihre Töchter noch an sie selbst in Frage kommen.