Im (die Revision abweisenden) Erkenntnis vom 21. Dezember 2021, Ro 2019/21/0016, setzte sich der VwGH mit der Frage auseinander, ob und in welcher Form die rechtskräftige Zurückweisungsentscheidung gemäß § 5 AsylG 2005 zu beseitigen ist, um die inhaltliche Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zu ermöglichen.
Ausgangspunkt des Falles war ein Erkenntnis des BVwG, mit dem es – im Beschwerdeverfahren – den Antrag auf internationalen Schutz des Mitbeteiligten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen hatte, dass für die Prüfung dieses Antrags Italien zuständig sei. Weiters ordnete es die Außerlandesbringung des Mitbeteiligten an und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Italien zulässig sei. Eine fristgerechte Überstellung des Mitbeteiligten erfolgte – aufgrund seiner Anhaltung in Strafhaft – nicht.
In der Folge erließ das BFA eine Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten mit der Begründung, das Asylverfahren des Mitbeteiligten sei vom BVwG rechtskräftig abgeschlossen worden und dieses Erkenntnis könne vom BFA nicht behoben werden. Trotz Belehrung und mehrmaliger Nachfrage habe der Mitbeteiligte keinen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Das BVwG behob diesen Bescheid ersatzlos und erklärte die Revision für zulässig. Aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist sei Österreich zuständig und der noch unerledigte, seinerzeit wegen Unzuständigkeit zurückgewiesene Antrag auf internationalen Schutz inhaltlich zu prüfen. Eine Aufhebung der Entscheidung des BVwG sei nicht notwendig. Es fehle Rechtsprechung zur Frage, ob es in einer Konstellation wie der vorliegenden einer „förmlichen Aufhebung“ der Dublin-Entscheidung bedürfe.
Die Amtsrevision vertrat die Auffassung, es gebe keine Rechtsgrundlage für die Annahme des BVwG, die Dublin-Entscheidung sei ex lege außer Kraft getreten. Der Fremde könne durch die Stellung eines weiteren Antrags den Zuständigkeitsübergang geltend machen, so eine Zulassung des Verfahrens und damit gemäß § 61 Abs. 4 FPG das Außerkrafttreten der Anordnung zur Außerlandesbringung herbeiführen.
Dem schloss sich der VwGH nicht an. Er stellte zunächst – unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH – Grundlegendes zum Zuständigkeitsübergang infolge Ablaufs der Überstellungsfrist klar: Die Zuständigkeit gehe „von Rechts wegen“ auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, der verpflichtet sei, den (ursprünglich gestellten) Antrag auf internationalen Schutz nach Ablauf der Überstellungsfrist inhaltlich zu prüfen. Ein weiterer (neuer) Antrag müsse hierfür nicht gestellt werden.
Neues hielt der VwGH in Hinblick auf die von der Amtsrevision angesprochene Regelung des § 61 Abs. 4 FPG fest: Der früheren Judikatur, wonach die ursprüngliche (nicht fristgerecht umgesetzte) Zurückweisung des Antrags gemäß § 5 AsylG 2005 „von den Asylbehörden wieder aufzuheben“ sei, sei nunmehr der Boden entzogen. Gemäß der seit 2014 geltenden Bestimmung des § 61 Abs. 4 FPG trete nämlich die Anordnung zur Außerlandesbringung außer Kraft, wenn das Asylverfahren zugelassen werde. Dafür bedürfe es keiner förmlichen Aufhebung. Der auf ein einheitliches Asylverfahren (argumentum: „das Asylverfahren“) abzielende § 61 Abs. 4 FPG beziehe sich, so der VwGH weiter, auch auf Konstellationen, in denen nach einer zurückweisenden Dublin-Entscheidung die Zuständigkeit auf Österreich übergegangen sei. Es sei dann „das Asylverfahren“, also jenes über den ursprünglichen Antrag, weiterzuführen.
Der Gerichtshof räumte zwar ein, dass die Bestimmung ausdrücklich nur das Außerkrafttreten der Anordnung zur Außerlandesbringung (und nicht der Zurückweisung des Antrags) normiere. Daraus sei aber, wolle man dem Gesetzgeber insoweit keine unbeabsichtigte Lücke unterstellen, nur eine Schlussfolgerung zu ziehen: Die im Dublin-Verfahren ergangene Zurückweisungsentscheidung ist mit dem Ablauf der Überstellungsfrist und dem deshalb „von Rechts wegen“ eingetretenen Zuständigkeitsübergang ohne Weiteres außer Kraft getreten. Sie steht der gebotenen Zulassung des Verfahrens über den wieder offenen Antrag auf internationalen Schutz und dessen inhaltlicher Prüfung nicht (mehr) entgegen.
Die Annahme des BFA, der Mitbeteiligte hätte einen weiteren Antrag stellen müssen, treffe daher nicht zu. Der Behörde sei es aber nicht verwehrt, zur Klarstellung der Rechtslage einen bloß deklarativen Bescheid über das Außerkrafttreten des nach § 5 AsylG 2005 ergangenen Bescheides zu erlassen, so der VwGH abschließend.
Bearbeitet von: Mag.a Stefanie Haller, BA
Das BFA „irrt“ gern, zu Ungunsten von Asylwerbern.