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„Möchten Sie lieber mit einer Frau sprechen?“ – Beleuchtung von § 20 AsylG 2005 vor dem Hintergrund unionsrechtlicher und internationaler Vorgaben

4. November 2022 in Beiträge
1 Kommentare

Tags: § 20 AsylG, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, sexuelle Selbstbestimmung

Mag.ª Lilian Hagenlocher

Mag.a Lilian Hagenlocher ist Juristin und Translationswissenschaftlerin und seit 2014 in der Rechtsabteilung von UNHCR Österreich tätig, wo sie bei Fortbildungsveranstaltungen für Rechtsberater:innen, Richter:innen und Referent:innen des BFA u.a zum Thema Frauen auf der Flucht vorträgt.


Viele geflüchtete Frauen und Mädchen sind von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen, Tendenz steigend (auch bedingt durch die Covid-19-Pandemie). Dass es ihnen schwer fallen kann, in der Anwesenheit von Männern darüber zu berichten, liegt auf der Hand. § 20 AsylG 2005 versucht, dieser Problematik Rechnung zu tragen.

Was gibt die Bestimmung her?

§ 20 AsylG 2005 normiert, dass Asylsuchende, die ihre Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in ihre sexuelle Selbstbestimmung gründen, von Organwalter:innen des gleichen Geschlechts einzuvernehmen sind, es sei denn, sie verlangen anderes. Laut den Gesetzesmaterialien soll mit dieser Bestimmung, die der höchstgerichtlichen Judikatur zufolge dem „Abbau von Hemmschwellen“ dient, der Umsetzung internationaler Vorgaben Rechnung getragen werden. Explizit genannt wird ein Beschluss des UNHCR-Exekutivkomitees, demzufolge die Vertragsstaaten „wo es notwendig ist“ weibliche Anhörerinnen zur Verfügung stellen sollen. Die jüngeren UNHCR-Richtlinien zu geschlechtsspezifischer Verfolgung sehen sogar vor, dass für Antragstellerinnen automatisch Befragerinnen (in diesem Blogbeitrag in weiterer Folge als Überbegriff für die Befragung im Rahmen der Einvernahme und der mündlichen Verhandlung verwendet) und Dolmetscherinnen vorgesehen werden In Ländern, wo UNHCR selbst Asylverfahren durchführt und nicht genug weibliches Personal zur Verfügung steht, wird diesem Schutzmechanismus dahingehend Rechnung getragen, dass Antragstellerinnen, bevor ein Termin anberaumt wird, gefragt werden, ob sie eine Präferenz haben, was das Geschlecht des Gegenübers betrifft.

(Unzureichende) Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben

Gemäß Art. 15 Abs. 3 EU-Asylverfahrensrichtlinie in Zusammenschau mit Erwägungsgrund 32 sollten während der Anhörung grundsätzlich solche Bedingungen vorliegen, die es asylsuchenden Frauen ermöglichen, ein so schambehaftetes Thema wie einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmtheit im Asylverfahren anzusprechen. Art. 15 Abs. 3 lit. b spezifiziert dies dahingehend, dass die Anhörung durch die Behörde soweit möglich von Personen des gleichen Geschlechts durchzuführen ist, wenn der bzw. die Antragsteller:in darum ersucht (es sei denn, es gibt Hinweise, dass das Ersuchen auf Gründen beruht, die nicht mit Schwierigkeiten in Verbindung stehen, die Gründe für den Antrag umfassend darzulegen).

Dass bereits ein Nexus zu einem sexuellen Eingriff hergestellt wurde, ist unionsrechtlich nicht vorgesehen, worauf UNHCR in seiner Analyse des FrÄG 2015 auch hinwies. Denn genau hier beißt sich die (österreichische) Katze in den Schwanz: Wenn eine Belehrung zu § 20 AsylG 2005 nur stattfinden muss, wenn ein entsprechender Eingriff bereits vorgebracht wurde, wird es unvermeidlich Fälle geben, wo eine (in erster Instanz idR unvertretene) Asylsuchende in der Anwesenheit von Männern geschlechtsspezifische Gewalt nicht einmal ansatzweise erwähnt und somit von dieser Schutznorm nicht profitieren kann. Zwar kann es vorkommen, dass ein sexueller Eingriff bereits aus dem Erstbefragungsvorbringen ersichtlich ist – dort gilt § 20 AsylG 2005 allerdings nicht und es kann Asylsuchenden aus verschiedenen Gründen schwerfallen, gegenüber Polizeibeamt:innen über schwierige Ereignisse zu berichten (vgl. auch diesen Blogbeitrag zur Bewertung von Angaben im Erstbefragungskontext).

Zudem kann es vorkommen, dass Asylsuchende im Rahmen der Einvernahme vor einem Mann bzw. männlichen Dolmetscher einen Eingriff zu schildern beginnen und (nach erfolgter Belehrung gemäß § 20 AsylG 2005) aus Angst, der Abbruch der Einvernahme würde das Verfahren in die Länge ziehen, zustimmen, diese fortzusetzen, obwohl sie sich in dieser Konstellation unwohl fühlen. Wenn sie dann entsprechende Ereignisse nur in Grundzügen erzählen, riskieren sie, dass ihnen dieses Verhalten negativ ausgelegt wird, zB dass ihr Vorbringen als „vage und unkonkret“ (vgl. die in dieser VfGH-Entscheidung zitierte Befragung) eingestuft wird. Deshalb wäre es notwendig, dass von Vornherein weibliche Referentinnen eingesetzt werden.

Last but not least verlangt Art. 15 Abs. 3 lit. c EU-Asylverfahrensrichtlinie die Bereitstellung gleichgeschlechtlicher Dolmetscher:innen – eine entsprechende Umsetzung lässt das AsylG 2005 zwar vermissen, höchstgerichtlich  wurde es bereits 2003 geklärt. Apropos Dolmetscher:innen – hier sollte im Kontext von § 20 AsylG 2005 jedenfalls darauf geachtet werden, dass die ausgewählte Person das entsprechende Fachvokabular beherrscht (zB sollte im Gespräch mit Betroffenen von Genitalverstümmung (FGM/C) auf das Wort „Verstümmelung“ verzichtet werden) und sich bei der Schilderung von Antragsgründen in Zusammenhang mit der Auflehnung gegen soziale Normen, die der eigenen Wertehaltung entgegenlaufen können, professionell verhält.

Geschlechtssensible Interpretation der amtswegigen Ermittlungspflicht

Neben Stigma und Scham als typische Hemmschwellen bei frauenspezifische Fluchtgründen sollte beachtet werden, dass Frauen bestimmte Themen womöglich nicht ansprechen, weil sie sich gar nicht bewusst sind, dass es sich dabei um eine asylrelevante Verfolgungshandlung handeln kann, wie dies zB bei FGM der Fall sein kann. Dies umso mehr in der ersten Instanz, wo Asylsuchende in der Regel im Vorfeld der Einvernahme keine Rechtsberatung in Anspruch nehmen (können). Hier stellt sich die Frage, inwieweit notorisches Wissen um sexuelle Gewalt bei bestimmten Gruppen (zB unbeschnittenen Mädchen) bzw in bestimmten Konstellationen (zB sexuelle Gewalt im Rahmen bewaffneter Konflikte) in die Befragung einfließen sollte, um die „Umstände des Antrags einschließlich … der Geschlechtszugehörigkeit“ (vgl. Art 15 Abs. 3 lit. a EU-Asylverfahrensrichtlinie) angemessen prüfen zu können. Der VwGH beruft sich – ohne auf die geschlechtsspezifische Komponente des Falles einzugehen – in dieser Frage auf § 18 AsylG 2005 und ist der Ansicht, dass ein explizites Nachfragen die Ermittlungspflichten des BVwG übersteigen würde. Der Praxisleitfaden „Persönliche Anhörung“ der EU-Asylagentur empfiehlt hingegen bei bestimmten Themen (explizit genannt wird zB FGM) eine amtswegige Prüfung, selbst wenn das Thema von Seiten der Asylsuchenden nicht zur Sprache gebracht wird. Die UNHCR-Richtlinien zu geschlechtsspezifischer Verfolgung verfolgen den gleichen Ansatz – sie empfehlen, dass „konkrete Fragen gestellt werden, die dazu beitragen, dass geschlechtsspezifische Fragen besprochen werden“. Die Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung des deutschen BAMF spricht in einem Interview ebenfalls die starke Tabuisierung des Themas auf Seiten der Asylsuchenden an und findet, dass man Antragstellerinnen durchaus „signalisieren“ sollte, Kenntnis über die entsprechenden „landesspezifischen Bedingungen“ zu haben.

Einige aktuelle höchstgerichtliche Vorgaben

Seit Anfang 2020 haben die Höchstgerichte mehrere Entscheidungen im Zusammenhang mit § 20 AsylG 2005 behoben – die Regelung scheint also auch in ihrer gegenwärtigen Form einige Fragen aufzuwerfen. Folgendes wurde bereits (zum Teil mehrfach) geklärt: Es ist nicht notwendig, dass bereits ein Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung stattgefunden haben muss – die Furcht vor einem solchen ist ausreichend (für viele: VfGH E1273/2018 vom 20.6.2018; interessant im Kontext genereller Gewaltbefürchtungen im syrischen Bürgerkrieg zudem Ro 2020/14/0003 vom 22.10.2020). Auch muss das Vorbringen nicht in Zusammenhang mit dem Fluchtgrund stehen oder bestimmte Glaubhaftigkeitskriterien erfüllen (diese VfGH-Entscheidung vom November 2021 fasst auch die bisherige Judikatur zu diesen Punkten sehr gut zusammen). Selbst eine ganz generelle, nicht näher konkretisierte Angst vor Übergriffen sexueller Art fällt bereits unter den Anwendungsbereich von § 20 AsylG 2005 (vgl. etwa ganz aktuell VwGH Ra 2021/19/0325 vom 19.5.2022). Dies mag manchen im ersten Moment vielleicht überzogen erscheinen, ist jedoch, wenn man dem Telos der Bestimmung Rechnung tragen möchte, klar erforderlich, um auszuschließen, dass etwaige Zweifel am Vorbringen darin begründet liegen, dass es der asylsuchenden Person nicht möglich war, ihre Gründe vor einem gleichgeschlechtlichen Gegenüber vorzutragen. Aus dem gleichen Grund ist es laut VfGH auch nicht rechtens, wenn die zuständige Richterin ohne mündliche Verhandlung entscheidet (in einem Fall wo die BFA-Einvernahme durch einen männlichen Referenten erfolgte). Offen bleibt, wann bei expliziter Zustimmung der Asylsuchenden zum männlichen Referenten von einem „anderweitigen Verlangen“ iSd § 20 Abs. 1 zweiter Satz AsylG 2005 ausgegangen werden kann („Es ist in Ordnung, wir können weitermachen“ wurde in diesem Zusammenhang vom VwGH etwa nicht per se als eindeutig eingestuft). Vor dem BVwG ist eine solche „Einwilligung“ ganz generell nicht möglich, da laut VfGH die Zuständigkeit einer Richter:in des gleichen Geschlechts bereits mit dem entsprechenden Vorbringen (spätestens im Rahmen der Beschwerde) begründet wird.

Internationale Kritik und Ausblick

Dass es bei der Ausgestaltung von § 20 AsylG 2005 noch Luft nach oben gibt, wurde 2019 auch vom UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW Committee) in seinen Concluding Observations festgestellt. Auch das GREVIO-Gremium des Europarats empfiehlt Österreich in seinem Bericht aus dem Jahr 2017, dass Frauen sich das Geschlecht des befragenden Gegenübers aussuchen können sollten, so wie dies für Vertragsstaaten in der Istanbul-Konvention vorgesehen ist (vgl. Rn 317 des Ergänzenden Berichts sowie die Resolution 1765 (2010) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zu geschlechtsbezogenen Asylanträgen).

In einigen Ländern (z.B. Vereinigtes Königreich) gibt es Leitfäden zum Umgang mit frauenspezifischen Fluchtgründen, die neben rechtlichen Instruktionen oft auch die Rahmenbedingungen der Befragung bzw. Gesprächsführung vorgeben. In Österreich gibt es (noch) nicht Vergleichbares, in puncto Rahmenbedingungen wurde aber etwa klargestellt, dass dem Wunsch einer Asylsuchenden nach einer Befragung in Abwesenheit des Ehemanns nachzukommen ist (vgl. VwGH, Ra 2019/18/0517 vom 10.06.2020). Daran anknüpfend bleibt festzuhalten, dass die Befragung durch gleichgeschlechtliche Entscheider:innen – und dies unabhängig von einem bereits vorgebrachten Eingriff – nur ein (wichtiger) Aspekt eines geschlechtssensibel ausgestalteten Asylverfahrens ist. In weiterer Folge braucht es auch eine entsprechend geschlechtssensibel ausgestaltete Befragung der betroffenen Frauen und Mädchen.


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Kommentare

One thought on "„Möchten Sie lieber mit einer Frau sprechen?“ – Beleuchtung von § 20 AsylG 2005 vor dem Hintergrund unionsrechtlicher und internationaler Vorgaben"

  1. Lilian Hagenlocher sagt:

    Dass §20 AsylG auch im Wiederaufnahme- bzw. Folgeantragsverfahren gilt, hat der VfGH (bzw. auch der VwGH) in der Vergangenheit bereits geklärt (VfGH 9.10.2018, E 1297/2018 bzw. VfGH 7.6.2021, E 357/2021). Interessant nun eine ganz aktuelle Entscheidung zur Übertragung der §20 AsylG-Vorgaben auf das Schubhaftverfahren (VfGH, 4.10.2022, E881/2022):

    „Vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles ist die Aufrechterhaltung der Schubhaft gemäß §76 Abs 6 FPG insofern eng mit der Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz verbunden, als bei der Beurteilung des Vorliegens einer Verzögerungsabsicht eine inhaltliche Grobprüfung der Verfolgungsbehauptungen durchzuführen und eine Prognose über den voraussichtlichen negativen Ausgang des Asylverfahrens zu stellen ist. Somit hat das BVwG im Rahmen der Beurteilung nach §76 Abs6 FPG das Vorbringen des Asylwerbers, mit dem eine Verfolgung wegen eines Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung behauptet wird, dahingehend inhaltlich zu prüfen, ob es einen glaubhaften Kern aufweist. Dementsprechend sind die Vorgaben des §20 AsylG 2005, welche in einem Verfahren nach dem AsylG 2005 zu beachten sind, auch in Bezug auf mündliche Verhandlungen betreffend die Grobprüfung eines Antrages auf internationalen Schutz nach §76 Abs6 FPG während der aufrechten Schubhaft beachtlich.“

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