Recht und Wissenschaft in Österreich

Die spontanen Angaben bei der Erstbefragung kommen der Wahrheit am nächsten. Kein Asylwerber würde wohl eine Gelegenheit ungenützt lassen, zentrales Vorbringen zu erstatten.

20. Juni 2022 in Beiträge
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Tags: Asylverfahren, Erstbefragung, Glaubhaftigkeit, Glaubhaftmachung, Glaubwürdigkeit, Steigerung

Mag. Markus Kainradl

Mag. Markus Kainradl ist Jurist in der Rechtsabteilung von UNHCR Österreich. Er referiert regelmäßig zu verschiedenen Themenbereichen des internationalen Asylrechts und leitet Fortbildungsveranstaltungen für Richter:innen, Referent:innen und Rechtsberater:innen.


Eine kritische Betrachtung dieser oftmals in Asylentscheidungen angeführten Argumentation zur Begründung mangelnder Glaubhaftigkeit später erstatteter Vorbringen.

Die in diesem Blogbeitrag geäußerten Ansichten geben nicht notwendigerweise die Meinung von UNHCR wieder.

Die polizeiliche Erstbefragung zu Beginn des Asylverfahrens „hat den Zweck die Identität und die Reiserouten des Fremden festzustellen, nicht jedoch im Detail befragend, welche Gründe ihn bewogen haben, seinen Herkunftsstaat zu verlassen“. Diese Vorgaben der Regierungsvorlage zum AsylG 2005 werden damit begründet, dass „gerade Flüchtlinge Schwierigkeiten haben könnten, sich hierzu gegenüber einem uniformierten Staatsorgan – vor dem sie möglicherweise erst vor kurzem aus ihrem Herkunftsstaat geflohen sind – zu verbreitern.

Der VfGH gab darüber hinaus zu bedenken, dass sich Asylwerber:innen, die „unmittelbar nach ihrer Einreise einvernommen“ werden, „in der Regel in einem physischen und psychischen Ausnahmezustand befinden“ und erkannte in einem weiteren Verfahren, „dass an die dennoch bei der Erstbefragung erstatteten, in der Regel kurzen Angaben zu den Fluchtgründen im Rahmen der Beweiswürdigung keine hohen Ansprüche in Bezug auf Stringenz und Vollständigkeit zu stellen sind.

Bezüglich eines auf die sexuelle Orientierung gestützten Antrags verwies der VfGH überdies auf den EuGH und die UNHCR Richtlinien Nr. 9 und wiederholte, dass „Schamgefühle oder internalisierte Homophobie und Trauma dazu führen [können], dass Antragstellende nur schwer Auskunft über ihre Sexualität und damit ihren Fluchtgrund geben können. Wenn sich daher eine Person im Verfahren vor oder in früheren Phasen der Anhörung nicht zu seiner sexuellen Orientierung oder gleichgeschlechtlichen Identität bekennt, so sollte dies im Allgemeinen nicht nachteilig beurteilt werden. […] Der alleinige Umstand, dass eine Person nicht sofort ihre Homosexualität angegeben hat, spricht […] angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die Sexualität betreffen, nicht gegen die Glaubwürdigkeit eines solchen Vorbringens.

Ebenso behob auch der VwGH bereits öfters Entscheidungen, in deren Erwägungen seine in ständiger Rechtsprechung aufgezeigten „Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung“ nur unzureichend oder nicht eingeflossen sind. Bei Widersprüchen und sonstigen Ungereimtheiten zu späteren Angaben bedürfe es jedenfalls „sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind“. Mit Verweis auf seine frühere Rechtsprechung widersprach der VwGH hierbei explizit der „Annahme, ein Asylwerber werde immer alles, was zur Asylgewährung führen könne, bereits bei der Erstbefragung vorbringen“.

Im klaren Gegensatz hierzu wird jedoch oftmals in erst- und zweitinstanzlichen Verfahren argumentiert, „kein Asylwerber würde wohl eine sich bietende Gelegenheit zentral entscheidungsrelevantes Vorbringen zu erstatten, ungenützt vorübergehen lassen“. Auf Basis dieser Annahme werden sodann regelmäßig Vorbringen, die nicht bereits in der Erstbefragung erstattet wurden, in nachfolgenden Verfahrensschritten als unglaubhafte Steigerung gewertet. Die meisten Entscheidungen verwiesen hierzu bislang auf ein VwGH-Zitat, wobei jedoch anscheinend eine fehlerhafte Geschäftszahl (2000/01/0250) verwendet wurde, da die entsprechende (nicht im RIS publizierte) zweiseitige Entscheidung nicht mit einer unglaubhaften Steigerung des Vorbringens in Zusammenhang stand, sondern bloß die dreitägige Rechtsmittelfrist in Ungarn iZm § 4 AsylG 1997 thematisierte. Manchmal wurde in demselben Zusammenhang auch auf ein Erkenntnis mit der Zl. „2000/01/0205“ verwiesen, das jedoch ebenso wenig im RIS publiziert wurde, und sich inhaltlich auf Unterschiede zwischen Einvernahme und UBAS-Berufungsverhandlung bezog. Auch aus dieser Entscheidung können keine allgemein gültigen Rechtssätze in Bezug auf die Erstbefragung abgeleitet werden. Ebenso wenig führt die Textsuche im RIS zur VwGH-Judikatur mit den in all diesen Verweisen angeführten Rechtssatzelementen „kein Asylwerber würde“, „ungenützt vorübergehen lassen“, „verstreichen lassen würde“, „sich bietende Gelegenheit“, „sich bietende Möglichkeit“ oder „zentral entscheidungsrelevantes Vorbringen“ zu relevanten Treffern, aus denen sich dem o.g. Zitat entsprechende Schlussfolgerungen zu Erstbefragungen ableiten ließen.

Ähnliche oftmals angeführte Argumentationen, „nach ständiger Judikatur des VwGH […] den Angaben des Asylwerbers bei seiner ersten Befragung im Verwaltungsverfahren grundsätzlich größere Glaubwürdigkeit beizumessen als dem späteren Vorbringen.“, da „Asylwerber gerade bei der ersten Befragung spontan jene Angaben [machen], die der Wahrheit am nächsten kommen“, oder „grundsätzlich den ersten Angaben des Asylwerbers ein erhöhter Wahrheitsgehalt zuerkannt werden muss“, widersprechen einerseits den oben angeführten jüngeren Erkenntnissen der Höchstgerichte und den Gesetzesmaterialien zum AsylG 2005. Andererseits verweisen sie entweder auf Entscheidungen des VwGH, die sich auf das AsylG 1968 und somit auf eine völlig veraltete Rechtslage beziehen (08.04.1987, 85/01/0299; 02.03.1988, 86/01/0214; 05.10.1988, 88/01/0155; 17.06.1993, 92/010776 (sic) bzw. 92/01/0776; 30.06.1994, 93/01/1138; 19.05.1994, 94/19/0049; 10.10.1996, 96/20/0361), auf ein Erkenntnis, das gerade keinen „erhöhten Wahrheitsgehalt“ annimmt (02.01.2017, Ra 2016/18/0323) oder auf ein Erkenntnis, das kein Asylverfahren, sondern eine Strafe wegen Alkohol am Steuer betrifft (05.06.1987, 87/18/0022).

Darüber hinaus gelten zur Erstbefragung im Asylverfahren ganz einfach nicht dieselben Verfahrensgarantien wie in Einvernahmen und Verhandlungen. Allein deshalb sind die dort getätigten Aussagen nach Auffassung von UNHCR schon als unverlässlicher zu werten. Gäbe man den Aussagen in der Erstbefragung dagegen mehr Bedeutung, wären die meisten (europa-)rechtlichen Regelungen zur Qualitätssicherung von Einvernahmen völlig widersinnig. Warum werden zB Verpflichtungen zur speziellen Ausbildung von Referent:innen geschaffen, Vorkehrungen zu kindgerechten Anhörungen getroffen oder besondere Befähigungen der anhörenden Person vorausgesetzt, um die kulturelle Herkunft, Geschlechtszugehörigkeit, sexuelle Ausrichtung, Geschlechtsidentität oder Schutzbedürftigkeit der Antragsteller:in zu berücksichtigen, wenn den Angaben der Erstbefragung mehr Gewicht beigemessen wird, wo all diese und noch mehr Regelungen zur Erleichterung der Ermittlung des tatsächlichen Sachverhalts nicht gelten? Allein der Umstand, dass Referent:innen gem. Art. 15d EU-VerfRL explizit keine Polizeiuniformen tragen dürfen, sollte die Unterschiede klarmachen.

Neben der oben beschriebenen Problematik der Befragung durch uniformierte Polizist:innen und der psychischen und physischen Ausnahmesituation stehen aber auch noch weitere Aspekte der tatsächlichen Befragungssituation einer Annahme entgegen, Asylsuchende würden in der Regel sofort alle Fluchtgründe erzählen (können) und ihre Angaben bei der Erstbefragung kämen der Wahrheit am nächsten. So kann es im Einzelfall durchaus nachvollziehbar sein, dass gerade die tatsächlichen Erfahrungen geflüchteter Personen einer freien Erzählung bei der polizeilichen Befragung gleich nach der Einreise entgegenstehen. ZB kann von LGBTI+ Personen, die jahrelang aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität oder ihres Geschlechtsausdrucks diskriminiert wurden und in deren Herkunftsländern Homosexualität vielleicht sogar unter Strafe steht, kein sofortiges Coming-Out verlangt werden. Ebenso wenig ist von einer Person, die vor staatlicher Verfolgung geflohen ist, in jedem Fall Vertrauen in die österreichische Polizei zu erwarten. Asylsuchende, die eine Religion nur im Geheimen praktizieren konnten, sind sich vielleicht nicht darüber klar, wie auf diese Religionszugehörigkeit und ihre Praktiken in Österreich reagiert würde. All diese beispielhaften Sachverhaltskonstellationen veranschaulichen, weshalb die mit den oben genannten Textbausteinen festgelegte uneingeschränkte („kein Asylwerber würde“) Norm für das Aussageverhalten bei Erstbefragungen unhaltbar ist und in vielen Fällen das Gegenteil zutrifft.

Darüber hinaus findet die Befragung oft unter Zeitdruck statt und die Polizist:innen sind dazu angehalten, keine Folgefragen zu den Fluchtgründen zu stellen. Auf dem Protokollierungsformular stand jahrelang die Vorgabe, die Antwort zur Frage nach dem „Fluchtgrund“ (Singular) auf einer halben Seite darzustellen. Die Protokollierung übersteigt auch gegenwärtig noch äußerst selten diesen Umfang, was grundsätzlich gegen die Annahme einer freien Erzählung oder für eine bloß summarische Protokollierung spricht. Die gesetzliche Beschränkung, dass sich die Erstbefragung nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat, kann im Einzelfall leicht zu Unterbrechungen einer umfassenden Erzählung der Antragsteller:in zu ihren Fluchtgründen durch die Befragungsleiter:in führen – mit der Gefahr, dass nicht alle asylrelevanten Aspekte protokolliert werden oder zB nur einer von mehreren Fluchtgründen aufgenommen wird.

Weiters kann es in der Praxis insbesondere in ländlichen Regionen und aufgrund der zeitlichen Rahmenbedingungen schwierig sein, qualifizierte Dolmetscher:innen für alle benötigten Sprachen zu finden. Oftmals übernehmen Dolmetscher:innen Teile der Befragungsleitung, was wiederum dazu führen kann, dass nicht alle Gespräche zwischen Antragsteller:in und Dolmetscher:in übersetzt und protokolliert werden. Aufgrund der herausfordernden Gesamtsituation sind vorgebrachte Schwierigkeiten mit Dolmetschungen in der Erstbefragung jedenfalls nicht von vornherein als Schutzbehauptung vom Tisch zu wischen.

Falls erst im Beschwerdeverfahren Unterschiede im Vorbringen zur Erstbefragung auftreten, kann dies auch darauf zurückzuführen sein, dass Antragsteller:innen vor Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens normalerweise noch keine Rechtsberatung erhalten haben und in vielen Fällen bei ihrer ersten Befragung nicht beurteilen konnten, welche ihrer Erfahrungen für das Asylverfahren rechtlich relevant sind. Die oben beschriebene Argumentation, Asylsuchende würden bei der Erstbefragung spontan eher die Wahrheit sagen, ist gerade in solchen Fällen nicht nachvollziehbar. Im Gegenteil ist es naheliegend, dass die Erzählung im direkten Anschluss an eine wochen- oder monatelange Flucht durch Gerüchte und falsche Ratschläge von Schlepper:innen beeinflusst sein kann. Eine qualitätsvolle Rechtsberatung (zB durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen) kann eine vertrauensvolle Möglichkeit darstellen, solchen Desinformationen entgegenzuwirken.

Schließlich sei noch auf die Stellungnahme zur Regierungsvorlage der AsylG-Novelle 2003 hingewiesen, mit der UNHCR unter Verweis auf seine internationale Erfahrung klarstellt, „dass die Annahme, Verfolgte könnten sofort nach Ankunft in einem fremden Land im ersten Anlauf alles wirklich Wichtige lückenlos, schlüssig und ohne Beeinträchtigung durch persönliche und kulturelle Hemmungen darlegen, völlig unrealistisch ist.“

Zusammengefasst sollten sich Beurteilungen mangelnder Glaubhaftigkeit mE somit nicht auf Angaben stützen, die gleich nach Ankunft vor uniformierten Polizist:innen in der verkürzten Befragung zu den Fluchtgründen gegeben wurden. Der vom Gesetzgeber auf die Ermittlung der Identität und der Reiseroute beschränkte Zweck und die im Vergleich zu Einvernahmen und Verhandlungen deutlich reduzierten Verfahrensgarantien sollten dabei beachtet werden. Selbst wenn sich alle Verantwortlichen um eine bestmögliche Qualität der Befragung bemühen, stehen die Rahmenbedingungen und eine Vielzahl asylverfahrensspezifischer Umstände einer Verwertbarkeit der Angaben bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit späteren Vorbringens zu sehr entgegen. In Entscheidungsbegründungen, die darlegen, weshalb den fluchtrelevanten Angaben nicht geglaubt wird, sollte das schwache Argument von Widersprüchen zwischen Erstbefragung und späteren Aussagen in aller Regel gar nicht benötigt werden. Vielmehr birgt eine solche Vorgehensweise die Gefahr, Zweifel an der Entscheidung zu vermitteln, die sich nicht auf die wesentlichen „Knackpunkte“ konzentriert, welche die Begründung auch alleine tragen würden. Anders gesagt: Wenn solch ein schwaches Argument zur Begründung einer Asylentscheidung tatsächlich unverzichtbar ist, steht diese wohl schon auf eher wackligen Beinen.

All dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass die kurze Befragung zu Fluchtgründen in der Erstbefragung völlig sinnlos wäre. Im Gegenteil – sie kann sehr wohl zur Verfahrensqualität beitragen, wenn die Antworten zur Vorbereitung auf weitere Verfahrensschritte genutzt werden (zB Heranziehung speziell ausgebildeter Referent:innen für bestimmte Themen, Vorabrecherchen zur Einvernahme oder Briefing der Dolmetscher:innen zu voraussichtlich nötigem „Spezialvokabular“).

Sollten trotz all dieser Argumente weiterhin Angaben der Erstbefragung zur Begründung unglaubhaft gesteigerter Vorbringen herangezogen werden, so muss Antragsteller:innen zumindest die Gelegenheit gegeben werden, Unterschiede oder Widersprüche in den Angaben zwischen Erstbefragung und Einvernahme und/oder Verhandlung aufzuklären. Solche Erklärungen sollten im Lichte oben beschriebener Problematik der Erstbefragungssituation bewertet werden, wobei eine besonders großzügige Anwendung des Zweifelsgrundsatzes zugunsten von Antragsteller:innen erforderlich ist.


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