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BVwG: Wer gilt als „vertrieben“ im Sinne der VertriebenenVO?

BVwG 18.11.2022, W196 2262218-1/3E und BVwG 07.12.2022, W189 2259726-1/4E


Ob für die Anerkennung als Vertriebene die physische Anwesenheit in der Ukraine am 24.02.2022 erforderlich ist, ist in der Rechtsprechung des BVwG noch nicht einheitlich beantwortet worden.

BVwG 18.11.2022, W196 2262218-1/3E:

Die Beschwerdeführerin, eine ukrainische Staatsangehörige, registrierte sich am 17.05.2022 bei der Polizei und beantragte, gem. § 1 Z 1 VertriebenenVO iVm § 62 AsylG 2005 als Vertriebene anerkannt zu werden.

Mit Bescheid des BFA vom 10.10.2022 wurde der Beschwerdeführerin kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt I.), gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.) sowie ihre Abschiebung in die Ukraine für unzulässig erklärt (Spruchpunkt III.).

Einer gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 18.11.2022, W196 2262218-1/3E, stattgegeben, der angefochtene Bescheid im Umfang der Spruchpunkte I. und II. behoben sowie gem. § 62 Abs. 1 AsylG 2005 iVm VertriebenenVO festgestellt, dass der Beschwerdeführerin ex lege das vorübergehende Aufenthaltsrecht für Vertriebene zukomme.

Das BVwG stellte fest, die Beschwerdeführerin, die nach wie vor ihren Wohnsitz in Charkiw habe, sei am 20.02.2022 aufgrund einer für vier Tage anberaumten Geschäftsreise mit dem Flugzeug von Kiew nach Tallinn gereist, der für den 24.02.2022 geplante Rückflug habe jedoch aufgrund des am selben Tag begonnenen Überfalls Russlands auf die Ukraine nicht mehr stattgefunden, da der ukrainische Luftraum für zivile Flüge gesperrt worden sei. Aufgrund der Kriegshandlungen sei die Beschwerdeführerin nicht in die Ukraine zurückgekehrt, sondern habe einige Zeit in Estland abgewartet, ob sich die Lage bessern würde. Im Mai habe sich die Beschwerdeführerin entschieden, zu einer Freundin nach Wien zu fahren, wo sie sich am 17.05.2022 bei der Polizei registriert habe.

In der rechtlichen Beurteilung wurde ausgeführt, dass gem. § 62 Abs. 1 AsylG 2005 die Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates mit Verordnung für Zeiten eines bewaffneten Konfliktes oder sonstiger die Sicherheit ganzer Bevölkerungsgruppen gefährdender Umstände davon unmittelbar betroffenen Gruppen von Fremden, die anderweitig keinen Schutz finden (Vertriebene), ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet gewähren könne. Gem. § 1 Z 1 VertriebenenVO hätten Staatsangehörige der Ukraine mit Wohnsitz in der Ukraine, die aus dieser aufgrund des bewaffneten Konfliktes ab dem 24.02.2022 vertrieben wurden, sofern nicht Ausschlussgründe iSd Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2001/55/EG vorliegen, nach ihrer Einreise ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht. Im gegenständlichen Fall sei zu beurteilen, ob die Beschwerdeführerin am 24.02.2022 aus der Ukraine iSd § 1 Z 1 VertriebenenVO „vertrieben“ worden ist. Bei der Auslegung des Begriffs „vertrieben“ könne im gegenständlichen Fall nicht auf die physische Ausreise der Beschwerdeführerin abgestellt werden, es müsse vielmehr auf die Vertreibung im Sinne einer Verunmöglichung der Rückkehr in die Ukraine abgestellt werden. Dem Verordnungsgeber könne nicht unterstellt werden, dass ohne sachliche Rechtfertigung jene vertriebenen Personen aus der Ukraine vom Anwendungsbereich des § 1 Z 1 VertriebenenVO ausgenommen werden sollten, die ihren tatsächlichen gewöhnlichen Lebensmittelpunkt am 24.02.2022 in der Ukraine gehabt haben, aufgrund eines kurzfristigen Auslandsaufenthalts an diesem Tag jedoch nicht physisch im Hoheitsgebiet der Ukraine aufhältig gewesen sind. Eine verfassungskonforme Interpretation des Vertriebenenbegriffs verlange, dass auch diesen Personen als unmittelbar betroffene schutzbedürftige Personen iSd § 62 Abs. 1 AsylG 2005 ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht ex lege zukommt. Die Beschwerdeführerin müsste nämlich ansonsten in die Ukraine zurückreisen, um bei einer anschließenden Rückkehr nach Österreich als Vertriebene anerkannt zu werden.

Demgegenüber BVwG 07.12.2022, W189 2259726-1/4E:

Die Beschwerdeführerin, eine ukrainische Staatsangehörige, beantragte mit Schreiben vom 21.07.2022 die Feststellung ihres Status als Kriegsvertriebene.

Mit Bescheid des BFA vom 01.09.2022 wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführerin gem. § 62 Abs. 1 AsylG 2005 iVm VertriebenenVO kein vorläufiges Aufenthaltsrecht als Vertriebene zukomme (Spruchpunkt I.). Zudem wurde der Antrag auf Ausstellung eines Ausweises für Vertriebene gem. § 62 Abs. 4 AsylG 2005 zurückgewiesen (Spruchpunkt II.).

Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 07.12.2022, W189 2259726-1/4E, als unbegründet abgewiesen.

Das BVwG stellte fest, die Beschwerdeführerin sei ukrainische Staatsangehörige, im Besitz eines gültigen ukrainischen Reisepasses und habe am 24.02.2022 weder über einen Aufenthaltstitel nach dem NAG noch über ein Visum verfügt. Sie sei laut ihren eigenen Angaben am 19.02.2022 aus der Ukraine ausgereist und am 03.06.2022 aus den USA kommend nach Österreich eingereist.

In der rechtlichen Beurteilung wurde ausgeführt, mit Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 vom 04.03.2022 sei erstmals ein Massenzustrom von Vertriebenen in die Union festgestellt und damit die MassenzustromRL 2001/55/EG für Personen, „die infolge eines bewaffneten Konflikts die Ukraine verlassen mussten“, aktiviert worden. Diese Richtlinien würden die unionsrechtlichen Rahmenakte für die VertriebenenVO darstellen, deren gesetzliche Grundlage § 62 AsylG 2005 bilde. Gem. Art. 2 Abs. 1 lit. a des Durchführungsbeschlusses gelte dieser Beschluss für ukrainische Staatsangehörige, die vor dem 24.02.2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine gehabt haben und am oder nach dem 24.02.2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte aus der Ukraine vertrieben worden sind. Für das Bundesgebiet sei dieser Ratsbeschluss durch die VertriebenenVO umgesetzt worden. Gem. § 1 Z 1 hätten Staatsangehörige der Ukraine mit Wohnsitz in der Ukraine, die aus dieser aufgrund des bewaffneten Konfliktes ab dem 24.02.2022 vertrieben worden sind, nach ihrer Einreise ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet. Vor diesem Hintergrund ergebe sich bereits aus Art. 2 des Durchführungsbeschlusses, dass vom Begriff „Personen und Personengruppen, die am oder nach dem 24.02.2022 aus der Ukraine vertrieben wurden“, grundsätzlich nur Personen, die zu diesem Stichtag in der Ukraine anwesend gewesen sind, vom Schutzumfang umfasst seien. Noch deutlicher werde dies in den „Ermutigungen“ an die Mitgliedstaaten in Erwägungsgrund 14 des Durchführungsbeschlusses, wonach die Mitgliedstaaten ermutigt werden sollten, die Ausdehnung des vorübergehenden Schutzes auf Personen in Erwägung zu ziehen, die nicht lange vor dem 24.02.2022 aus der Ukraine geflohen sind oder die sich kurz vor diesem Zeitpunkt (etwa im Urlaub oder zur Arbeit) im Gebiet der Union befunden haben und die infolge des bewaffneten Konflikts nicht in die Ukraine zurückkehren können. Von diesen „Ermutigungen“ habe der Verordnungsgeber jedoch bislang keinen Gebrauch gemacht. Nachdem in der VertriebenenVO, anders als etwa in Deutschland, der Kreis der Schutzberechtigten, trotz der Möglichkeit einer Ausdehnung, auf die beschwerdegegenständliche Personengruppe nicht ausgeweitet worden sei, sei es dem BFA verwehrt, ohne Rechtsgrundlage den Personenkreis zu erweitern. Der Beschwerdeführerin komme daher weder ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht auf Grundlage der VertriebenenVO zu noch könne ihr auf Grundlage dieser Verordnung der begehrte Ausweis gem. § 62 Abs.4 AsylG 2005 ausgestellt werden.

Anm: Eine ähnliche Argumentation findet sich etwa in BVwG 21.11.2022, W247 2261434-1/4E oder in BVwG 02.12.2022, W103 2260439-1/5E.

Bearbeitet von: Mag. Moritz Hessenberger


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