SW, ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, wurde 1976 im Libanon geboren. Dort lebte er, bis er den Libanon im Februar 2019 verließ. SW leidet an einer angeborenen schweren genetischen Krankheit, die einer Behandlung bedarf, zu der ihm das UNRWA mangels finanzieller Mittel nicht verhelfen konnte. Am 11. August 2019 stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz in Frankreich.
Den Asylantrag von SW lehnte das OFPRA ab. Die Cour nationale du droit d’asile (Nationales Gericht für Asylsachen, Frankreich) hob diesen Bescheid auf und erkannte SW die Flüchtlingseigenschaft zu. Das OFPRA legte gegen diese Entscheidung Kassationsbeschwerde beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) ein. Dieser erstattete ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH und wollte wissen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird, wenn diese Organisation einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft, dem dieser Schutz oder Beistand gilt, den Zugang zu der medizinischen Versorgung und Behandlung, die sein Gesundheitszustand erfordert, nicht gewährleisten kann.
Nach dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 der Richtlinie 2011/95 ist ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er „den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge gemäß Artikel 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie.“
Nach allgemeinen Ausführungen zum Mandat von UNRWA (in Rn 27-33), hielt der Gerichtshof unter Verweis auf die Rechtssache El Kott u.a. (C-364/11) zunächst fest, „dass mit dem bloßen Verlassen des UNRWA-Einsatzgebiets durch den Betroffenen – unabhängig von dem Grund – der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 dieser Richtlinie vorgesehene Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling nicht enden kann und dass daher eine bloße Abwesenheit von diesem Gebiet oder die freiwillige Entscheidung, es zu verlassen, nicht als Wegfall des Schutzes des UNRWA eingestuft werden kann.“ Der Gerichtshof führt unter Verweis auf El Kott u.a. auch aus, dass der von UNRWA geleistete Schutz nicht nur durch die Auflösung dieser Organisation selbst wegfallen kann, „sondern auch dadurch, dass es dieser Organisation unmöglich ist, ihre Aufgabe zu erfüllen.“
„So kann, wenn die Entscheidung, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen, durch Zwänge begründet ist, die vom Willen des Betroffenen unabhängig sind, eine solche Situation zu der Feststellung führen, dass der Beistand, den diese Person genossen hat, im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95 nicht länger gewährt wird“ (siehe Rn 36 mit Verweis auf El Kott u.a.).
Diese Auslegung steht im Einklang mit dem Ziel von der Richtlinie, wonach der Schutz palästinensischer Flüchtlinge gewährleistet werden soll, bis ihre Lage endgültig geklärt worden ist.
Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass für die Feststellung, ob der Schutz des UNRWA nicht länger gewährt wird, weil eine Person gezwungen war, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen, nicht nachgewiesen werden muss, dass das UNRWA oder der Staat, in dem es tätig ist, die Absicht hatte, dieser Person Schaden zuzufügen oder ihr den Beistand zu entziehen.
Es genügt vielmehr der Nachweis, „dass UNRWA aus objektiven oder mit der persönlichen Situation der besagten Person zusammenhängenden Gründen nicht länger in der Lage ist, ihr die Lebensbedingungen zu gewährleisten, die mit seiner Aufgabe im Einklang stehen.“ Die Unterstützung des UNRWA umfasst auch gesundheitliche Angelegenheiten (vgl. Rn 39), wobei die Aufgabe darin besteht, eine gesundheitliche Versorgung sowie Arzneimittel bereitzustellen, die den grundlegenden Bedürfnissen entspricht.
Nach Ansicht des Gerichtshofes reicht es für die Annahme, dass eine Person gezwungen war das Einsatzgebiet zu verlassen, noch nicht aus, wenn die von UNRWA gewährleisteten Gesundheitsleistungen lediglich hinter denen zurückbleiben, die diese Person in Anspruch nehmen könnte, wenn sie in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt würde.
Bei einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft ist jedoch „davon auszugehen, dass er gezwungen war, das UNRWA-Einsatzgebiet zu verlassen, wenn für ihn aufgrund der Unmöglichkeit, seitens des UNRWA die erforderliche gesundheitliche Versorgung bereitgestellt zu bekommen, eine tatsächliche unmittelbare Lebensgefahr oder die tatsächliche Gefahr einer ernsten, raschen und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands oder einer erheblichen Verkürzung seiner Lebenserwartung besteht. Es ist Sache des nationalen Gerichts, das Bestehen einer solchen Gefahr zu prüfen.“
Bearbeitet von: Marie Charlotte Nocke (Ass.Iur.)