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VfGH: Die BBU GmbH kann unbegleitete minderjährige Asylwerber:innen vor dem VfGH vertreten


Minderjährige Asylwerber:innen ohne Obsorgeträger werden im Verfahren vor dem BFA und dem BVwG von der BBU GmbH als Rechtsberaterin vertreten (§ 10 Abs. 3 und 6 BFA‑VG; § 2 Abs. 1 Z 2 BBU‑G). In seinem Beschluss vom 1. März 2024, E 345/2024, hat der VfGH nun klargestellt, dass sich diese Vertretungsbefugnis der BBU GmbH auch auf das Verfahren vor dem VfGH erstrecken kann, wenn für den Minderjährigen noch kein Obsorgeträger als gesetzlicher Vertreter bestellt worden ist.

Das Ausgangsproblem

Im Asylverfahren bedürfen Minderjährige als Prozessunfähige einer gesetzlichen Vertretung (vgl. § 10 Abs. 1, 3 und 6 BFA‑VG; Art. 24 Abs. 1 AufnahmeRL; Art. 25 Abs. 1 lit. a VerfahrensRL; VwGH 18.10.2017, Ra 2016/19/0351 ua).

Unbegleitete minderjährige Asylwerber:innen („UMF“) werden daher ab Ankunft in der Erstaufnahmestelle vorläufig von der BBU GmbH vertreten; nach Zulassung und Zuweisung an eine Betreuungsstelle eines Bundeslandes soll die Vertretung an den örtlich zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger übergehen (§ 10 Abs. 3 und 6 BFA‑VG).

Das Gesetz hat somit vor Augen, dass UMF in der Bundesbetreuung zunächst von der BBU GmbH vertreten werden und diese Aufgabe nach Überstellung in die Landesbetreuung vom örtlich zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger übernommen wird. Diese Aufgabenteilung folgt dem parallel ausgestalteten System der Grundversorgung. Auch hier leistet der Bund die Grundversorgung im Zulassungsverfahren bis die Länder diese nach Zulassung des Verfahrens übernehmen (vgl. Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 Z 1 GVV; § 2 Abs. 1 iVm § 1 Z 3 und § 6 Abs. 1 und  2 GVG‑B 2005; GVG der Länder).

Es kann allerdings vorkommen, dass sich ein UMF selbst nach Abschluss des Verfahrens vor dem BVwG noch in der Bundesbetreuung befindet und noch kein Obsorgeträger für ihn bestellt worden ist (s. dazu vertiefend Kasper/Öhner, Fluchtwaisen in Bundesbetreuung: Obsorge und Grundversorgung im Lichte des BVG Kinderrechte, in: Filzwieser/Kasper [Hrsg.], Asyl- und Fremdenrecht. Jahrbuch 2023, 2023, 275).

In einem solchen Fall ist zu klären, wer UMF im Verfahren vor dem VfGH vertritt. Diese Frage drängt sich auf, weil der Anwendungsbereich des BFA‑VG gemäß § 1 nicht das Verfahren vor dem VfGH mitumfasst und auch § 10 Abs. 3 BFA‑VG dem Wortlaut nach auf das „Verfahren vor dem Bundesamt und dem Bundesverwaltungsgericht“ beschränkt ist.

Die Entscheidung des VfGH

Der Beschluss des VfGH zu E 345/2024 erging in einem Verfahrenshilfeverfahren. Ein unbegleiteter Minderjähriger hatte, vertreten durch die BBU GmbH, Verfahrenshilfe zur Beschwerdeführung gegen eine abweisende Entscheidung des BVwG beantragt. Der Minderjährige war nach wie vor in der Bundesbetreuung und seine Vertretung noch nicht auf einen Obsorgeträger übergegangen.

Der VfGH hatte daher zu prüfen, ob der Minderjährige für die Beantragung von Verfahrenshilfe wirksam von der BBU GmbH vertreten werden konnte.

In einem ersten Schritt wies der VfGH darauf hin, dass er diese Frage gemäß § 35 VfGG iVm § 1 ZPO zu beurteilen hat. Gemäß § 35 VfGG ist im Verfahren vor dem VfGH die ZPO subsidiär anwendbar. Da das VfGG die Prozessfähigkeit Minderjähriger und ihre gesetzliche Vertretung nicht regelt, hat der VfGH diese gemäß § 1 ZPO „nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen zu beurteilen“.

In einem zweiten Schritt qualifizierte der VfGH § 10 BFA‑VG als eine „bestehende gesetzliche Bestimmung“ iSd § 1 ZPO, die im Verfahren vor dem VfGH gemäß § 35 VfGG sinngemäß anzuwenden ist.

In einem dritten und letzten Schritt wandte sich der VfGH der konkreten Ausgestaltung des § 10 Abs. 3 BFA‑VG zu. Hier konnte der VfGH auf seine Vorjudikatur zu einer Vorgängerbestimmung des § 10 Abs. 3 BFA‑VG verweisen. Denn schon § 25 Abs. 2 AsylG 1997 hatte vorgesehen, dass der Rechtsberater UMF im Zulassungsverfahren vertritt und die Vertretung nach Zulassung des Verfahrens und Zuweisung an ein Bundesland auf den örtlich zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger übergehen sollte.

Zu dieser Bestimmung hatte der VfGH in VfSlg. 17.495/2005 ausgesprochen, dass es dem Gesetzgeber nicht zusinnbar sei, zwischen Beendigung des Zulassungsverfahrens und Zuweisung an eine Betreuungseinrichtung eine zeitliche Lücke zu schaffen, in der der Minderjährige ohne gesetzliche Vertretung sei und niemand für den Minderjährigen rechtzeitig Rechtsmittel erheben könne. Der VfGH war also der Auffassung, dass keine Lücke in der gesetzlichen Vertretung eintreten dürfe, weil ansonsten der effektive Zugang zu den gerichtlichen Rechtsschutzeinrichtungen nicht mehr gewährleistet wäre.

Zu § 10 Abs. 3 BFA‑VG hatte zudem schon der VwGH ausgesprochen, dass die Vertretungsbefugnis der Rechtsberatung erst dann wegfiele, wenn mit pflegschaftsgerichtlichem Beschluss eine geeignete Person oder – wenn eine solche geeignete Person nicht zu finden sei – der Kinder- und Jugendhilfeträger mit der Obsorge betraut werde, weil dann keine Vertretungsvakanz mehr vorliege und der betraute Obsorgeträger als gesetzlicher Vertreter die Interessen des Minderjährigen wahrnehmen könne (VwGH 18.10.2017, Ra 2016/19/0351 ua, Rz 29).

Daraus folgerte der VfGH, dass sich die gesetzliche Vertretung des minderjährigen Antragstellers durch die BBU GmbH im vorliegenden Fall in sinngemäßer Anwendung des § 10 Abs. 3 dritter Satz BFA-VG iVm § 1 ZPO und § 35 VfGG auf das Verfahren vor dem VfGH erstrecke. Der VfGH stellte zur Vermeidung von Missverständnissen zudem klar, dass die Anwaltspflicht gemäß § 17 Abs. 2 VfGG unberührt bliebe.

Fazit

Solange UMF über keinen Obsorgeträger verfügen, bleibt die BBU GmbH zu ihrer Vertretung im Asylverfahren – auch vor dem VfGH – berufen. Zu diesem Ergebnis gelangte der VfGH in sinngemäßer Anwendung des § 10 Abs. 3 bzw. 6 BFA‑VG (§ 35 VfGG iVm § 1 ZPO), die er auch in Rechtsschutzerwägungen begründet sah. Wäre § 10 BFA‑VG im Verfahren vor dem VfGH nicht anwendbar, gäbe es nämlich niemanden, der für den Minderjährigen wirksam Rechtsschutz suchen könnte, etwa durch die Beantragung von Verfahrenshilfe oder die Bevollmächtigung einer Rechtsanwältin.

Bearbeitet von: Dr. Philipp Selim


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