Wirklich ALLE Fluchtgründe?
15. April 2024 in
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1 Kommentare
Tags: Beweiswert, Erstbefragung, Fluchtgründe
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In erstaunlich vielen Erstbefragungsprotokollen bekräftigen Asylwerber:innen, dass es keine weiteren Fluchtgründe als die genannten gäbe. Auffälligkeiten beim Vergleich von Erstbefragungsprotokollen lassen jedoch Zweifel daran aufkommen, was genau die Asylwerber:innen bei der Erstbefragung dazu tatsächlich ausgesagt haben.
Es finden sich nämlich in voneinander unabhängigen Verfahren teils wortgleiche Formulierungen, mit denen die Vollständigkeit der Fluchtgründe bestätigt wird. Von diesen wiederkehrenden Formulierungen gibt es verschiedene Versionen, allerdings kommen manche davon wortgleich in immer denselben Polizeidienststellen vor.
So gibt es etwa die Formulierung „Ich habe hiermit alle meine Gründe und die dazugehörigen Ereignisse angegeben, warum ich nach Österreich gereist bin. Ich habe keine weiteren Gründe einer Asylantragstellung.“, die sich in allen mir bekannten aktuellen Protokollen derselben Polizeidienststelle findet.
Auch bei anderen Polizeidienststellen sind diese und ähnliche Formulierungen in den Protokollen enthalten, und zwar in fast allen der vergangenen Jahre. Sie stehen jeweils am Ende der Antwort auf die Frage 11 zum Fluchtgrund und sind manchmal anders formatiert als der Rest – fett, kursiv und/oder unterstrichen. Die Formulierungen reichen von einem knappen „Das sind alle meine Fluchtgründe“ bis zu einem sehr vehementen „Ich habe nun wirklich ALLE meine Fluchtgründe dargelegt und es gibt absolut keine anderen Gründe mehr, warum ich meine Heimat verlassen habe und hierher nach Österreich gekommen bin.“ Sie finden sich auch in den Erstbefragungsprotokollen von unbegleiteten Minderjährigen. In älteren Protokollen (etwa aus den Jahren 2015 und 2016) finden sich hingegen meist keine vergleichbaren Formulierungen.
Entscheidungen des BVwG im RIS, in denen die Erstbefragung manchmal abgedruckt ist, bestätigen diesen Eindruck. Es finden sich (Stand März 2024) über 200 Treffer für die Phrase ‚alle meine Gründe und die dazugehör* Ereignisse angegeben‘, und immerhin 10 Ergebnisse für die Phrase mit „ALLE meine Fluchtgründe …“. Erstere taucht erstmals 2017 auf, zweitere 2018.
Woher kommen diese Passagen?
Wie es dazu kommt, dass sich ab 2017 diese Formulierungen regelmäßig in Erstbefragungsprotokollen finden und dass sie sich innerhalb einer Polizeidienststelle oft auf das Wort gleichen, lässt sich nicht nachvollziehen. Wenig wahrscheinlich scheint aber, dass es sich um die eigenen Worte der Antragsteller:innen handelt, dass so viele aus eigener Initiative die Vollständigkeit der Fluchtgründe (und darüber hinaus teilweise der Ereignisse) betonen und dass sie sich dafür auf einer Polizeidienstelle zufällig immer desselben Wortlauts bedienen.
Auf Anfrage gab das Innenministerium an, es werde bei der Frage nach den Fluchtgründen in der Regel nachgefragt, ob sie vollständig beantwortet wurde. Außerdem verwies es auf die Rückübersetzung und anschließende Bestätigung der Richtigkeit der Angaben durch die Asylwerber:innen. Auch wenn keine nähere Beschreibung der Fluchtgründe in der Erstbefragung erfolge, sei es für den weiteren Verlauf des Verfahrens (etwa für den Einsatz besonders geschulter Referent:innen) wesentlich, dass die Fluchtgründe bereits möglichst vollständig angeführt werden. Die Frage, ob es sich bei den Passagen um die eigenen Worte der Asylwerber:innen handle, beantwortete das Innenministerium nicht.
Wenn es sich aber tatsächlich nicht um die eigenen Worte der Antragsteller:innen handelt, gäben die Protokolle den Inhalt der Befragung nicht korrekt wieder. Es ist nämlich bei der Frage 11 zum Fluchtgrund explizit festgehalten, dass diese durch den Antragsteller in eigenen Worten abschließend zu beantworten ist, ohne zu hinterfragen. Diesem Hinweis entsprechend sollten auch nur die eigenen Worte der Befragten Eingang ins Protokoll finden.
Falls diese Passagen durch vorbereitete Formulierungen und entsprechende Nachfragen ins Protokoll kommen, wäre es erforderlich, das auch im Protokoll entsprechend zu vermerken. Wenn das BFA die Angaben aus der Erstbefragung dazu nützt, sich schon auf das weitere Verfahren vorzubereiten, ist dagegen nichts einzuwenden. Eine vollständige Anführung aller Fluchtgründe (oder gar der dazugehörigen Ereignisse) von Asylwerber:innen schon in der Erstbefragung zu erwarten, stünde allerdings im Widerspruch zu der Regelung des § 19 Abs 1 AsylG 2005 und der dazu ergangenen höchstgerichtlichen Rechtsprechung, wonach sich die Erstbefragung nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Noch weniger erschließt sich der Mehrwert, die angeführten Formulierungen im Protokoll einzufügen.
Auswirkungen in der Praxis
Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt Bedenken gegen eine unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen aus der Erstbefragung geäußert. Bei Passagen betreffend die Vollständigkeit der Fluchtgründe sollte vor diesem Hintergrund nicht davon ausgegangen werden, dass diese tatsächlich in dieser Form ausgesagt wurden. Zwischen einer von den Niederschriften aktuell suggerierten eigenständigen Betonung der Vollständigkeit der Fluchtgründe und der Bejahung einer diesbezüglichen Nachfrage besteht ein relevanter Unterschied. Auch ob eine solche Nachfrage wirklich gestellt wurde und zudem im Zuge der Rückübersetzung wortwörtlich übersetzt wurde, lässt sich im Einzelfall nicht mehr zweifelsfrei feststellen, wenn das Ergebnis im Protokoll immer dasselbe ist.
In der Praxis kommt es dennoch durchaus vor, dass diese Passagen herangezogen werden, um eine mangelnde Glaubwürdigkeit der Betroffenen zu begründen. So wertete das Bundesverwaltungsgericht (in einem mir nur aus dem RIS bekannten Fall) die Aussage eines Asylwerbers, dass der Dolmetscher ihn bei der Erstbefragung aufgefordert hätte, nur einen seiner Fluchtgründe zu nennen, als nicht plausibel, weil er ja ausdrücklich betont hätte, keine weiteren Gründe zu haben.
Beweiswert von Niederschriften im Asylverfahren
Während die hier angesprochenen Auffälligkeiten begründete Zweifel an den genannten Passagen erlauben, wird es für Entscheider:innen in vielen anderen Fällen kaum möglich sein, zuverlässig festzustellen, ob nachträglich vorgebrachte Fehler oder Unvollständigkeiten in der Niederschrift vorliegen oder nicht.
Entsprechendes Vorbringen ist aber dennoch ernst zu nehmen und zu würdigen. Zwar liefern Niederschriften gem. § 15 AVG den vollen Beweis über den Verlauf und den Gegenstand der Amtshandlungen. Der Gegenbeweis bleibt aber explizit zulässig.
Beim Maßstab, der an diesen Gegenbeweis angelegt wird, ist zu berücksichtigen, dass im Asylverfahren die Parteien in der Regel nicht die Sprache sprechen, in der die Niederschriften angefertigt werden. Sie können dann den Inhalt der Niederschrift selbst gar nicht überprüfen. Die Rückübersetzung ist dazu zwar ein wichtiges Instrument, kann aber nicht mit der eigentlich in § 14 AVG vorgesehenen (mangels Sprachkenntnissen nicht möglichen) eigenen Durchsicht oder einer Verlesung des Protokolls gleichgesetzt werden. Asylwerber:innen können nicht überprüfen, ob eine Rückübersetzung vollständig und richtig war.
Dass die Rückübersetzung nicht immer die ihr zugeschriebene Kontroll- und Sicherungsfunktion erfüllt, wird durch die in diesem Beitrag angesprochenen Passagen verdeutlicht und ist etwa auch Ergebnis eines Forschungsprojekts zur Protokollierung von Verhandlungen am UBAS (siehe hier S. 99). Zur Erstbefragung wurde auch in einem anderem Beitrag festgehalten, zu welchen Problemen es etwa bei der Übersetzung kommen kann und warum sich Beurteilungen zur Glaubhaftigkeit der Fluchtgründe nicht tragend darauf stützen sollten.
Die Anliegen, Asylwerber:innen auch nachträgliche Richtigstellungen von Niederschriften zu ermöglichen sowie unrichtige diesbezügliche Schutzbehauptungen zu verunmöglichen, ließen sich durch die Tonaufzeichnung von Einvernahmen miteinander vereinbaren. Der Beweiswert von Einvernahmen im Asylverfahren könnte durch diese sowohl im AVG als auch in § 19 Abs 3 AsylG 2005 vorgesehene Möglichkeit jedenfalls gesteigert werden.
Dieser Beitrag wurde im Rahmen des BVwG-Projekts der Caritas Österreich verfasst.
UNHCR/Mark Henley
20. Juni 2022 von Mag. Markus Kainradl in Beiträge
Eine kritische Betrachtung dieser oftmals in Asylentscheidungen angeführten Argumentation zur Begründung mangelnder Glaubhaftigkeit später erstatteter Vorbringen.
Dieses Problem sollte mit Inkrafttreten der Asylverfahrensverordnung der EU in naher Zukunft der Vergangenheit angehören, denn diese sieht eine Tobandaufzeichnung bei den Befragungen obligatorisch vor, so zumindest in den letzten Versionen, die ich gelesen habe.