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Aussetzung des asylrechtlichen Familiennachzugs – Ein Blick auf praktische Problemstellungen

26. September 2025 in Beiträge
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Tags: Familienleben, Familiennachzug, Familienzusammenführung, Fristhemmung, Notstand

Mag.a Sophie Beichl

Mag.a Sophie Beichl ist juristische Mitarbeiterin am Bundesverwaltungsgericht und dort in einer Kammer mit asyl-und fremdenrechtlichem Schwerpunkt sowie der Koordination Fremdenwesen und Asyl tätig.


Während Dr.in Ulrike Brandl und DDr. Philip Czech in ihrem zweiteiligen Beitrag die Aussetzung des Familiennachzugs jüngst vor allem im Lichte von Art. 8 EMRK und der Kinderrechte untersucht haben, nimmt dieser Beitrag eine ergänzende Perspektive ein. Im Mittelpunkt steht die rechtliche Ausgestaltung der Verfahren nach § 35 AsylG 2005 im Kontext der vorübergehenden Aussetzung. Dabei werden insbesondere die mit § 36a AsylG 2005 eingeführten Neuerungen, ihre verfassungs- und verfahrensrechtlichen Implikationen sowie ausgewählte offene Fragen der praktischen Anwendung beleuchtet.

Unionsrechtliche Fragen

36 Abs. 1 AsylG 2005 ermächtigt die Bundesregierung, durch Verordnung festzustellen, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit aufgrund der mit aktuellen Migrationsbewegungen verbundenen Auswirkungen in Österreich gefährdet sind. In diesem Zusammenhang wurden mit § 36 Abs. 1a sowie § 36a AsylG 2005 besondere Regelungen zum asylrechtlichen Familiennachzug – explizit zu Anträgen auf Erteilung eines Einreisetitels nach § 35 AsylG 2005 – geschaffen. Der Gesetzgeber stützt diese Regelungen ausdrücklich auf Art. 72 AEUV und leitet daraus eine Rechtfertigung zur Abweichung von sekundärrechtlichen Vorgaben des Unionsrechts ab. Mit der Aussetzung des Familiennachzugs – zumindest nach jener im Wege des § 35 AsylG 2005 – wird klar von Kapitel V der Familienzusammenführungsrichtlinie (RL 2003/86/EG) abgewichen.

Art. 72 AEUV normiert, dass die Wahrnehmung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit unberührt bleibt. Unter Verweis auf Art. 72 AEUV und das Vorliegen eines Notstandes sehen sich die Mitgliedstaaten berechtigt, von unionsrechtlichem Sekundärrecht abzuweichen. Der EuGH hat bereits in mehreren Entscheidungen (ua Rs. C-715/17 ua, C-368/20 ua, C-808/18) klargestellt, dass Art. 72 AEUV eng auszulegen sei und nicht als generelle Ermächtigung verstanden werden könne, sich allein durch Berufung auf die nationale Zuständigkeit für Ordnung und Sicherheit der Anwendung unionsrechtlicher Vorgaben zu entziehen. Einem Mitgliedstaat, der sich auf Art. 72 AEUV beruft, obliege der Nachweis dafür, dass die Inanspruchnahme der dort geregelten Ausnahme erforderlich ist, um seine Zuständigkeiten zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit wahrzunehmen. Der EuGH macht die Notwendigkeit regelmäßig davon abhängig, ob der betreffende Sekundärrechtsakt den Schutz von öffentlicher Ordnung und Sicherheit bereits berücksichtigt. Bislang hat der Gerichtshof in keinem Fall ein staatliches Vorgehen auf Grundlage von Art. 72 AEUV als gerechtfertigt anerkannt; allerdings hat er auch nicht explizit ausgeschlossen, dass eine solche Rechtfertigung im Einzelfall möglich wäre.

Die Beantwortung der Frage, ob die österreichische Bundesregierung den für eine Rechtfertigung im Sinne des Art. 72 AEUV erforderlichen Nachweis – etwa durch die Begründung eines Notstands und den Hinweis auf eine unzureichende Berücksichtigung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Wahrung von Ordnung und Sicherheit in der Richtlinie – zu erbringen vermag, muss an dieser Stelle offenbleiben. Ob dieser Nachweis durch die „Begründung gemäß § 36 Abs. 2 Asylgesetz 2005“ gelungen ist, wird letztlich der Beurteilung des EuGH obliegen. Zudem sei erwähnt, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie in Art. 6 sowie im 14. Erwägungsgrund zwar selbst eine Ausnahme zum Schutz der öffentlichen Sicherheit enthält, dabei aber im Wesentlichen nur auf eine individuelle Gefährdung durch die einzelne Person abgestellt wird.

Praktische Problemstellungen

Eingangs ist festzuhalten, dass die gewählte Vorgehensweise einer Fristhemmung – anders als eine Ab- oder Zurückweisung der Anträge – für Antragsteller:innen in Verfahren vor der Vertretungsbehörde auch Vorteile mit sich bringt: Zum einen bleibt der Antrag unabhängig von der Hemmung durch § 36a AsylG 2005 fristwahrend im Sinne des § 35 Abs. 1 letzter Satz AsylG 2005. Zum anderen profitieren Antragsteller:innen, die im Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig sind, davon, dass es gemäß § 35 Abs. 5 AsylG 2005 ausschließlich auf die Minderjährigkeit im Zeitpunkt der Antragstellung ankommt.

In diesem Zusammenhang ist § 36a Abs. 4 AsylG 2005 von besonderem Interesse, da die Vorschrift für die Beurteilung der Minderjährigkeit einer Bezugsperson ausdrücklich auf den Zeitpunkt der Antragstellung abstellt. Den Materialien zufolge soll damit verhindert werden, dass sich die Fristhemmung nachteilig auf die Interessen Minderjähriger auswirkt. Diese gesetzgeberische Entscheidung steht jedoch im offenkundigen Widerspruch zur ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung (VwGH 01.06.2018, Ra 2017/18/0312; VwGH 11.09.2024, Ra 2024/20/0312), wonach es für die Beurteilung der Minderjährigkeit einer Bezugsperson auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Anträge gemäß § 35 AsylG 2005, nicht aber auf jenen der Antragstellung ankommt; die Erteilung eines Einreisetitels im Rahmen des asylrechtlichen Familienzusammenführungsverfahrens ist bei Erreichung der Volljährigkeit der Bezugsperson ausgeschlossen, da die Voraussetzung der Familienangehörigeneigenschaft im Sinne des Abs. 5 leg cit nicht mehr erfüllt ist.

Zu beachten ist, dass § 36a AsylG 2005 gemäß § 73 Abs. 27 AsylG 2005 jedenfalls – soweit in Umsetzung der GEAS-Reform nicht ohnedies eine umfassende Novellierung vorgesehen ist – mit 30.09.2026 außer Kraft tritt. In Verfahren, die zu diesem Zeitpunkt – nicht zuletzt aufgrund der Fristhemmung und des dadurch voraussichtlich entstehenden Rückstaus bei den Vertretungsbehörden – noch anhängig sein werden, bleibt unklar, inwiefern der dann außer Kraft getretene § 36a Abs. 4 AsylG 2005 tatsächlich geeignet ist, nachteilige Auswirkungen auf die Interessen minderjähriger Bezugspersonen zu verhindern. Es bleibt abzuwarten, ob die erst im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens eingefügte Wertung des Abs. 4 über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus Berücksichtigung in die höchstgerichtliche Rechtsprechung zu Verfahren nach § 35 AsylG 2005 finden und zugleich eine Angriffsfläche gegen die vielfach kritisierte age-out-Judikatur des VwGH eröffnen wird.

Nach den Gesetzesmaterialien ist die Vertretungsbehörde zwar formell für die Beurteilung nach Art. 8 EMRK zuständig, kann dabei jedoch auf die Amtshilfe und Einschätzung des BFA zurückgreifen. Künftig soll die Mitteilung des BFA gemäß § 35 Abs. 4 AsylG 2005 auch eine Einschätzung dazu enthalten, ob die Erledigung des Antrags gem § 35 AsylG 2005 innerhalb von sechs Monaten gemäß Art. 8 EMRK dringend geboten ist. An diese Einschätzung besteht – anders als an die Wahrscheinlichkeitsprognose im Rahmen der Mitteilung nach § 35 Abs. 4 AsylG 2005 – keine strikte Bindung (vgl. AB 77 BlgNR XXVIII. GP, 7).

Mit Blick auf die Systematik der hier besprochenen Bestimmungen ist allerdings hervorzuheben, dass nicht nur § 36a AsylG 2005 eine Hemmung der Entscheidungsfrist der Vertretungsbehörden vorsieht: Schon im Verfahren nach § 35 AsylG 2005 besteht eine Fristhemmung für den Zeitraum zwischen Antragsvorlage beim BFA und dem Einlangen einer Mitteilung gemäß § 35 Abs. 4 AsylG 2005. Mit dem nunmehrigen System wird es daher zu „doppelten“ bzw. einander überlagernden Hemmungen kommen, deren Verhältnis zueinander unklar bleibt, die allerdings bei der Beurteilung von Säumnisbeschwerden – die ausdrücklich auch in den Übergangsbestimmungen (§ 75 Abs. 28 AsylG 2005) angesprochen werden – zu berücksichtigen sein werden. Gesetz und Materialien lassen ebenfalls ungeklärt, wie sich die mit der Antragsvorlage ausgelöste Hemmung gemäß § 35 Abs. 4 letzter Satz AsylG 2005 auf die achtwöchige Frist des § 36a Abs. 3 zweiter Satz zur Erlassung eines Feststellungsbescheides, der in der Praxis von der Einschätzung des BFA abhängen wird, auswirkt.

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Aussetzung von Familienzusammenführungsverfahren – die durch einen Notstand gerechtfertigt wird – ausdrücklich eine Einzelfallabwägung nach Art. 8 EMRK implementiert hat. Demgegenüber schließt § 35 Abs. 4 Z 1 AsylG 2005 eine positive Mitteilung des BFA aus, wenn gegen die Bezugsperson ein Aberkennungsverfahren anhängig ist; eine Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK ist in diesen Fällen nicht vorgesehen. Angesichts der derzeit hohen Zahl anhängiger Aberkennungsverfahren gegen Bezugspersonen bleibt abzuwarten, ob dieser Wertungswiderspruch künftig Anlass geben wird, das Fehlen einer Einzelfallprüfung nach Art. 8 EMRK im Rahmen eines Normprüfungsverfahrens zu § 35 Abs. 4 Z 1 AsylG 2005 aufzugreifen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Aussetzung der Verfahren nach § 35 AsylG 2005 – unabhängig von ihrer unionsrechtlichen Tragfähigkeit – zahlreiche inhaltliche Fragen offenlässt. Ob die nur vorübergehend vorgesehenen Maßnahmen dennoch langfristig Einfluss auf die höchstgerichtliche Rechtsprechung entfalten werden, bleibt abzuwarten – zumal die bevorstehende GEAS-Reform zusätzliche, bislang nicht vorhersehbare Auswirkungen auf den Familiennachzug mit sich bringen wird.


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