Mit Urteil vom 9. September 2021, C-18/20, Rechtssache XY entschied der EuGH über ein Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 18. Dezember 2019,
EU 2019/0008; Ro 2019/14/0006).
Dem lag ein Fall zugrunde, in dem der Asylwerber nach einem rechtskräftigen negativen Abschluss seines ersten Asylverfahrens, einen neuen Antrag auf internationalen Schutz (Folgeantrag) gestellt hatte, in dem er erstmals angab, homosexuell zu sein und deshalb Verfolgung in seiner Heimat (Irak) zu befürchten. Er habe bislang Angst gehabt, sich zu „outen“.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte diesen Folgeantrag (im Beschwerdeverfahren gegen einen entsprechenden Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl) wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Dabei ging es nicht näher darauf ein, ob der Revisionswerber tatsächlich homosexuell sei. Es verwies auf die österreichische Rechtslage, wonach (behauptete) Tatsachen, die bereits zur Zeit des ersten Asylverfahrens bestanden haben, vom Asylwerber aber nicht vorgebracht worden seien (hier: die Homosexualität des Asylwerbers), nicht mit einem Folgeantrag, sondern mit einem Wiederaufnahmeantrag geltend zu machen wären (was hier nicht geschehen sei).
Die Vorlagefragen des VwGH an den EuGH:
Der Verwaltungsgerichtshof legte dem EuGH aus Anlass einer Revision des Asylwerbers, in der die Unionsrechtswidrigkeit der österreichischen Rechtslage geltend gemacht wurde, drei Fragen zur Vorabentscheidung vor.
Er verwies zusammengefasst darauf, dass die Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) eine Unterscheidung zwischen Wiederaufnahme- und Folgeanträgen, wie sie das österreichische Verfahrensrecht vorsehe, nicht kennt. Es sei aber in Art. 40 der Richtlinie vorgesehen, einen Folgeantrag für unzulässig anzusehen, wenn keine neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden seien, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass er als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen sei (Abs. 2 und 3). Die Mitgliedstaaten könnten auch vorsehen, dass ein Folgeantrag nur dann weiter geprüft werde, wenn der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage gewesen sei, die neuen Sachverhalte im früheren Verfahren vorzubringen (Abs. 4).
Ausgehend davon stellte der Verwaltungsgerichtshof dem EuGH zusammengefasst folgende Fragen:
Erstens, umfasst die Wendung „neue Elemente oder Erkenntnisse“ in Art. 40 der Richtlinie auch solche Umstände, die bereits vor rechtskräftigem Abschluss des früheren Asylverfahrens vorhanden waren?
Zweitens, reicht es aus, wenn ein Asylwerber mit seinem neuen Vorbringen auf die Möglichkeit der Wiederaufnahme nach österreichischem Verfahrensrecht verwiesen wird?
Drittens, darf ein Folgeantrag auch zurückgewiesen werden, wenn den Asylwerber ein Verschulden am späten Vorbringen trifft, das nationale Recht aber keine ausdrückliche Norm enthält, die eine Zurückweisung des Folgeantrags in diesen Fällen erlaubt?
Die Antworten des EuGH im angeführten Urteil:
Nun liegen die Antworten des EuGH auf diese drei Fragen vor.
Zur ersten Frage äußerte sich der EuGH klar und abschließend: Mit den „neuen Elementen oder Erkenntnissen“, die zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sein müssen, meinen Art. 40 Abs. 2 und 3 der Verfahrensrichtlinie sowohl solche, die nach rechtskräftigem Abschluss des früheren Asylverfahrens eingetreten sind („nova producta“) als auch solche, die bereits vor Abschluss dieses Verfahrens existierten, aber vom Asylwerber nicht geltend gemacht wurden („nova reperta“).
Hilfreich ist die Antwort des EuGH zur zweiten Frage, wenngleich die endgültige Beurteilung erst im fortgesetzten Verfahren stattfinden muss: Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie schließt nicht aus, dass die Prüfung eines Folgeantrags im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens (nach nationalem Recht) stattfindet. Notwendig ist aber, dass dieses Verfahren mit den Vorgaben der Verfahrensrichtlinie im Einklang steht und für die Stellung dieses Antrags – anders als etwa nach § 69 Abs. 2 AVG – keine Ausschlussfristen gelten.
Zur dritten Frage meinte der EuGH, Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie ermächtige die Mitgliedstaaten, Regelungen vorzusehen, nach denen Folgeanträge zurückgewiesen werden, wenn der Asylwerber die neuen Elemente oder Erkenntnisse schuldhaft im früheren Asylverfahren nicht vorgebracht hat. Habe ein Mitgliedstaat von dieser Ermächtigung für eine spezifische Sondernorm nicht Gebrauch gemacht, sei es aber nicht gestattet, den Folgeantrag in Anwendung allgemeiner Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts abzulehnen.
Bearbeitet von: Mag. Peter Nedwed