Recht und Wissenschaft in Österreich

Kein generelles Recht von IS-Anhängerinnen und ihren Kindern auf Rückholung, aber Verpflichtung der Regierung zur Entscheidung in rechtsstaatlichem Verfahren

28. Oktober 2022 in Beiträge
0 Kommentare

Tags: EGMR, Einreise, Rückholung, Syrien, Terrorismus

DDr. Philip Czech

DDr. Philip Czech ist Senior Scientist an der Universität Salzburg, Österreichisches Institut für Menschenrechte. Er forscht und lehrt zum internationalen und innerstaatlichen Schutz der Grund- und Menschenrechte, dem Asyl- und Migrationsrecht sowie dem Strafvollzugsrecht. Er ist Herausgeber des Newsletter Menschenrechte und Co-editor des European Yearbook on Human Rights.


Müssen europäische Staaten eigenen Staatsbürger:innen, die sich in Syrien dem Daesch angeschlossen haben und mittlerweile in kurdischen Lagern festsitzen, die Rückkehr ermöglichen? Zu dieser Frage liegt nun mit H. F. ua gg Frankreich ein erstes Urteil des EGMR vor, das Aufschluss über die Reichweite der diesbezüglichen Verpflichtungen der Behörden gibt. Dieser Beitrag analysiert die Rechtsausführungen der Großen Kammer und erörtert, welche Schlüsse sich daraus für den Umgang mit den in Nordostsyrien festgehaltenen Frauen und Kindern ziehen lassen.

Zu den Anlassfällen und dem Hintergrund der Beschwerden

Der EGMR wurde von zwei französischen Ehepaaren angerufen, die sich seit Jahren erfolglos um die Repatriierung ihrer beiden Töchter und ihrer Enkelkinder bemühen. Die beiden Frauen waren 2014 bzw 2015 mit ihren Partnern nach Syrien gereist, um sich dort dem Daesch („Islamischer Staat“) anzuschließen. Die Terrororganisation befand sich damals auf dem Höhepunkt ihrer territorialen Ausbreitung, bevor sie im Lauf des Jahres 2017 immer weiter zurückgedrängt wurde, wofür neben den von kurdischen Milizen dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) auch Luftschläge einer internationalen Koalition verantwortlich waren. Zahlreiche Anhänger:innen des Daesch und ihre Familien wurden im Zuge dessen festgenommen und in Lagern im kurdisch kontrollierten Nordosten Syriens interniert. Auch die Töchter der Beschwerdeführer:innen wurden mit ihren mittlerweile in Syrien geborenen Kindern in eines der Lager gebracht. Diese Lager stehen unter der Kontrolle der SDF bzw der Autonomous Administration of North and East Syria (AANES). Frauen und Kinder wurden hauptsächlich in drei Lagern untergebracht: al-Hol (al-Haul), Roj und Ain Issa (nähere Infos dazu finden Sie hier). Die humanitäre Situation in den Lagern ist äußerst prekär. Insbesondere Kinder sind von Unterernährung, mangelnder Gesundheitsversorgung und Gewalt betroffen. Zudem sind die hygienischen und klimatischen Bedingungen katastrophal (siehe dazu den Bericht von Rights and Security International). In den Lagern ist der Daesch nach wie vor aktiv, von dessen Zielen sich ein erheblicher Teil der Internierten nie losgesagt hat.

Unter den Gefangenen befanden sich zunächst auch rund 250 Kinder und 80 Frauen französischer Staatsangehörigkeit. Die AANES forderte die internationale Staatengemeinschaft unter Verweis auf die Situation in den Lagern, ihre zur Gewährleistung der Sicherheit und Versorgung unzureichenden Ressourcen und das von den Angehaltenen ausgehende Sicherheitsrisiko wiederholt zur Repatriierung von Frauen und Kindern und zur Einrichtung eines Tribunals auf, vor dem die Kämpfer und Anhänger:innen des Daesch zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Die AANES bzw die SDF lassen die internierten Frauen und Kinder gehen, bestehen jedoch auf eine Rückholung durch die Behörden ihres Heimatstaats. Nur so kann gewährleistet werden, dass Anhänger:innen des Daesch zur Rechenschaft gezogen werden und sich nicht erneut dieser Terrororganisation anschließen. Einer Ausreise von Kindern, die dadurch gegen deren Willen von ihrer Mutter getrennt würden, stimmen die SDF generell nicht zu. Die französische Regierung organisierte die Rückholung von etwa 35 Minderjährigen, bei denen es sich vor allem um Waisen oder unbegleitete Kinder handelte und daher aus humanitären Gründen eine Repatriierung geboten erschien.

Die Beschwerdeführer:innen wandten sich wiederholt an die französischen Behörden, um diese zur Rückholung ihrer Töchter und Enkelkinder zu bewegen. Beide hatten ihnen gegenüber telefonisch erklärt, trotz der in Frankreich gegen sie anhängigen Strafverfahren und der bestehenden Haftbefehle zurückkehren zu wollen. Weder vom Staatspräsidenten noch vom Außenminister erhielten die Eltern eine konkrete Antwort. Sie wurden lediglich über den generellen Standpunkt Frankreichs informiert, wonach Anhänger:innen des Daesch dort abgeurteilt werden sollten, wo sie ihre Straftaten begangen hatten. Die von den Beschwerdeführer:innen angerufenen Gerichte erklärten sich für unzuständig, weil keine Kompetenz bestünde, die Ergreifung behördlicher Maßnahmen im Ausland anzuordnen.

Zur extraterritorialen Anwendbarkeit der EMRK

Zunächst stellte die Große Kammer des EGMR klar, dass die in Syrien festgehaltenen französischen Staatsangehörigen im Hinblick auf Art 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe) nicht in die Hoheitsgewalt Frankreichs fallen. Die Staatsbürgerschaft alleine kann demnach ebenso wenig wie die bloße Tatsache, dass die französischen Behörden in der Lage wären, sie aus den Lagern zu holen und damit die Anhaltung unter zumindest als erniedrigend anzusehenden Haftbedingungen zu beenden, eine Verantwortung Frankreichs begründen.

Zu einem anderen Ergebnis gelangten die Richter:innen jedoch bei Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK. Demnach darf niemandem das Recht entzogen werden, in jenen Staat einzureisen, dessen Staatsangehöriger er ist. Während sich aus Sinn und Zweck dieser Bestimmung klar ergibt, dass sie auf Staatsbürger:innen anwendbar sein muss, die an der Grenze Einlass begehren – und schon dadurch unter der Hoheitsgewalt ihres Heimatstaats stehen – müssen bei Personen, die sich in der Hoheitsgewalt eines anderen Staats (oder einer Organisation, die staatliche Funktionen ausübt) befinden, zusätzliche Verbindungen bestehen. Der EGMR verzichtete allerdings darauf, abstrakt zu bestimmen, welche Faktoren geeignet sind, eine solche im Hinblick auf die Hoheitsgewalt relevante Verbindung zu begründen. Stattdessen bezog er sich auf die Umstände der vorliegenden Fälle: Neben der Staatsangehörigkeit waren die offiziellen Ersuchen um Repatriierung, die Gefahr für Leben und Unversehrtheit in den Lagern und schließlich die Tatsache ausschlaggebend, dass die betroffenen Frauen mit ihren Kindern die Lager nur mit der Unterstützung Frankreichs verlassen konnten.

Kein generelles Recht auf Rückholung…

Ungeachtet der Geltung des Rechts auf Einreise verneinte der EGMR ein generelles Recht auf Repatriierung. Zwar seien aus Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK gewisse positive Verpflichtungen abzuleiten, diese würden aber nicht so weit gehen, dass Frankreich aktive Schritte setzen müsste, um den Betroffenen die Einreise zu ermöglichen. Zur Begründung verwies der Gerichtshof insbesondere auf das Fehlen eines Rechts auf diplomatischen Schutz im Völkerrecht, das er respektieren müsse. Klargestellt wurde damit auch, dass Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK zwar absolut gilt, also keinen Einschränkungen unterworfen werden darf, sich dieser absolute Schutz aber nur auf die negativen Verpflichtungen des Staates bezieht. Es ist ihm also zwar absolut verwehrt, eigene Staatsbürger:innen an der Grenze abzuweisen, seine positiven Verpflichtungen werden aber sehr wohl durch widerstreitende öffentliche Interessen begrenzt. Dabei besteht ein sehr weiter Ermessensspielraum des betroffenen Staates, der insbesondere auch diplomatische und politische Überlegungen sowie mögliche Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit berücksichtigen darf.

Damit Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK den Behörden in einem konkreten Fall überhaupt eine positive Verpflichtung auferlegt, muss „eine Weigerung des Staates, aktiv zu werden, unter den konkreten Umständen eines Falls den betroffenen Staatsangehörigen in einer Situation belassen […], die de facto mit jener der Verbannung vergleichbar wäre“ (Abs 260 des Urteils). Allerdings nimmt der Gerichtshof sogleich zwei wesentliche Einschränkungen vor: Erstens müsse jede derartige Verpflichtung angesichts des Fehlens eines generellen Rechts auf Repatriierung eng ausgelegt werden. Nur unter außergewöhnlichen Umständen sei somit von einer Pflicht der Behörden auszugehen, sich um die Rückholung eigener Staatsbürger:innen zu bemühen. Als Beispiele nennt er eine Gefährdung des Wohlergehens von Kindern in Situationen extremer Verwundbarkeit. Und zweitens beschränkt er seine Prüfung, ob der Staat einer solchen Verpflichtung nachgekommen ist, auf die Sicherstellung eines Schutzes vor Willkür.

Im gegenständlichen Fall lagen nach Ansicht des EGMR außergewöhnliche Umstände vor, die eine positive Verpflichtung Frankreichs nach sich zogen. Relevant waren dabei insbesondere die Rechtlosigkeit der Gefangenen in den von einer nichtstaatlichen bewaffneten Organisation kontrollierten Lagern, die dort herrschenden katastrophalen humanitären Zustände, das Fehlen einer internationalen Instanz zur Aburteilung der Gefangenen, die Bereitschaft der Kurden zur Übergabe der Gefangenen an Vertreter ihrer Heimatstaaten sowie die seitens mehrerer internationaler Organisationen ergangene Aufforderung an die Staaten Europas, ihre eigenen Staatsbürger:innen zu repatriieren. Dies bedeutete zwar nicht, dass Frankreich die Töchter und Enkelkinder der Beschwerdeführer:innen zurückholen hätte müssen, zog aber gewisse andere Verpflichtungen nach sich.

… aber Schutz vor willkürlicher Verweigerung

Aus dieser Bejahung positiver Verpflichtungen Frankreichs leitete der EGMR nämlich ab, dass über die Anträge auf Rückholung der Betroffenen in einem rechtsstaatlichen Verfahren hätte entschieden werden müssen, das die Vermeidung jeglicher Willkür sicherstellen hätte können. Demnach müssen solche Entscheidungen einem zweiseitigen Verfahren vor einem unabhängigen Spruchkörper unterworfen werden, in dem die Begründung der Entscheidung und die relevanten Beweise überprüft werden. Auch wenn Einschränkungen des Zugangs zu Informationen im Interesse der nationalen Sicherheit gerechtfertigt sein können, müssen die Antragsteller:innen in die Lage versetzt werden, die Gründe für die Entscheidung zumindest summarisch zu erfahren und sich davon zu vergewissern, dass diese auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhen. Sofern – wie im vorliegenden Fall – Kinder betroffen sind, muss die Überprüfung zudem sicherstellen, dass dem Kindeswohl und der besonderen Verletzlichkeit der Kinder angemessen Rechnung getragen wurde.

Da im vorliegenden Fall die Entscheidungen der Behörden keine nachvollziehbare Begründung enthielten, sich die Gerichte für unzuständig erklärten und auch keine andere Form der Überprüfung des behördlichen Verhaltens zur Verfügung stand, stellte der EGMR eine Verletzung von Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK fest. Zudem wurde der französischen Regierung ausdrücklich aufgetragen, die Ersuchen um Rückholung möglichst rasch erneut zu prüfen und dabei angemessene Vorkehrungen gegen Willkür zu treffen.

Fazit und Konsequenzen

Für jene europäischen Frauen und Kinder, die nach wie vor in einem der Lager in Nordostsyrien festgehalten werden, bedeutet dieses Urteil nur einen kleinen Hoffnungsschimmer. Denn eine Verpflichtung der Konventionsstaaten, sich um eine Rückholung ihrer eigenen Staatsangehörigen zu bemühen, lässt sich daraus nicht ableiten. Dies zeigt sich schon daran, dass die festgestellte Verletzung von Art 3 Abs 2 4. ZPEMRK nur aus der prozeduralen Vorgangsweise Frankreichs resultierte und nicht aus der Verweigerung einer Rückholung als solcher. Das Urteil macht klar, dass Betroffene kein generelles Recht auf Rückholung geltend machen können und die Regierungen bei ihren Entscheidungen auch „zwingende öffentliche Interessen“ oder „rechtliche, diplomatische oder materielle Schwierigkeiten“ berücksichtigen dürfen. Insbesondere die Gefahren für die öffentliche Sicherheit, die mit der Rückkehr radikalisierter IS-Anhängerinnen verbunden sein können – und auch bei Minderjährigen ab einem gewissen Alter nicht von Vornherein auszuschließen sind – dürfen somit in Rechnung gestellt werden. Der EGMR wird diese Entscheidungen nicht hinterfragen, solange sie nicht willkürlich sind.

Die zentrale Anforderung an die Mitgliedstaaten bezieht sich somit weniger auf den Inhalt ihrer Entscheidung über eine verlangte Repatriierung als auf den Entscheidungsfindungsprozess. Die nationalen Regierungen müssen demnach jedenfalls eine individuelle Prüfung anhand der Umstände des Einzelfalls vornehmen. Und diese Einzelfallentscheidungen müssen einer Überprüfung durch einen unabhängigen Spruchkörper zugänglich sein, was eine nachvollziehbare Begründung seitens der Behörde voraussetzt. In Österreich besteht in dieser Hinsicht Nachholbedarf. Nachdem offenbar nach wie vor Österreicherinnen mit ihren Kindern in Syrien festgehalten werden (siehe die Anfragebeantwortung des BMeiA), ist das BMeiA gefordert, eine den Schlussfolgerungen dieses Urteils entsprechende Vorgangsweise zu finden. Dies verlangt zumindest begründete Einzelfallentscheidungen, die einer unabhängigen Überprüfung zugänglich sind.


Twitter Facebook Linkedin Email Print Whatsapp Telegram

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Weitere Beiträge

6. September 2021 von DDr. Philip Czech in Beiträge

Wartefrist für die Familienzusammenführung zu subsidiär Schutzberechtigten verstößt gegen die EMRK

Im Juli hat der EGMR in seinem Urteil M. A. vs. Dänemark eine dreijährige Wartefrist für den Familiennachzug zu Bürgerkriegsflüchtlingen für konventionswidrig erklärt. Damit ist klar, dass die vergleichbare Regelung in § 35 Abs 2 AsylG vom Gesetzgeber novelliert werden muss. Dieser Beitrag rekapituliert die Eckpunkte des Urteils und erläutert seine Folgen für den Gesetzgeber und die Praxis.

Mehr lesen