Recht und Wissenschaft in Österreich

Wartefrist für die Familienzusammenführung zu subsidiär Schutzberechtigten verstößt gegen die EMRK

6. September 2021 in Beiträge
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Tags: EGMR, Familienzusammenführung, subsidiärer Schutz

DDr. Philip Czech

DDr. Philip Czech ist Senior Scientist an der Universität Salzburg, Österreichisches Institut für Menschenrechte. Er forscht und lehrt zum internationalen und innerstaatlichen Schutz der Grund- und Menschenrechte, dem Asyl- und Migrationsrecht sowie dem Strafvollzugsrecht. Er ist Herausgeber des Newsletter Menschenrechte und Co-editor des European Yearbook on Human Rights.


Im Juli hat der EGMR in seinem Urteil M. A. vs. Dänemark eine dreijährige Wartefrist für den Familiennachzug zu Bürgerkriegsflüchtlingen für konventionswidrig erklärt. Damit ist klar, dass die vergleichbare Regelung in § 35 Abs 2 AsylG vom Gesetzgeber novelliert werden muss. Dieser Beitrag rekapituliert die Eckpunkte des Urteils und erläutert seine Folgen für den Gesetzgeber und die Praxis.

Dreijährige Wartefrist für die Familienzusammenführung ist zu lange

In seinem Urteil M. A. vs Dänemark vom 9.7.2021 äußerte sich der EGMR erstmals zu einer gesetzlichen Wartefrist für den Familiennachzug. Den Anlass für die Beschwerde hatte die Anwendung einer Bestimmung des dänischen Ausländergesetzes gegeben, wonach Bürgerkriegsflüchtlinge mit einem sogenannten temporären Schutzstatus – im Gegensatz zu anderen Schutzberechtigten – ihre Angehörigen erst nach drei Jahren zu sich holen können. Der Beschwerdeführer war aus Syrien geflohen, wo seine Frau nach wie vor lebte. Den Antrag stellte er bereits einige Monate nach der Statuszuerkennung, da er seine Frau so bald wie möglich zu sich nach Dänemark holen wollte. Aufgrund der dänischen Rechtslage konnte der Antrag nur abgewiesen werden, weil die Frist noch nicht abgelaufen war und Ausnahmen nicht vorgesehen sind.

Um die Ungleichbehandlung aufgrund des Status zu verdeutlichen, muss kurz der rechtliche Hintergrund geschildert werden: Im Gegensatz zur Statusrichtlinie und dem darauf beruhenden österreichischen AsylG kennt das dänische Recht neben Flüchtlingen iSd GFK zwei weitere Kategorien von Schutzsuchenden, wobei danach unterschieden wird, ob die Gefahr der drohenden Todesstrafe, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe auf individuellen Gründen beruht oder aus der allgemeinen Situation im Herkunftsland resultiert. Während Konventionsflüchtlinge und andere individuell Verfolgte einen günstigeren Status erhalten, ist für Bürgerkriegsflüchtlinge, die nicht aus persönlichen Gründen verfolgt werden, der temporäre Schutzstatus vorgesehen. Nur für diese Kategorie gilt eine Wartefrist bei der Familienzusammenführung.

Nach der Kernaussage des Urteils ist eine solche dreijährige Wartefrist mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens unvereinbar. Während eine zweijährige Frist – zumindest für den Ehegattennachzug – noch im Ermessensspielraum der Staaten liegt, gewinnen danach die unüberwindbaren Hindernisse für ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsstaat fortschreitend an Bedeutung. Daher ist eine Frist nur dann mit Art 8 EMRK vereinbar, wenn sie keine wesentlich länger als zwei Jahre dauernde Trennung nach sich zieht. Dies gilt zumindest immer dann, wenn eine Rückkehr ins Herkunftsland ausgeschlossen ist (was bei subsidiär Schutzberechtigten so gut wie immer der Fall sein wird) und keine besonderen Faktoren der Einwanderungskontrolle gegen eine Familienzusammenführung sprechen.

Während der EGMR die zu lange Trennung als unvereinbar mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens erachtete, nahm er an der Ungleichbehandlung zwischen unterschiedlichen Kategorien von Schutzberechtigten keinen Anstoß. Auch wenn dieser Aspekt nur am Rande behandelt wurde und wegen der Eigenheiten des dänischen Ausländergesetzes ein Vergleich zwischen Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten gar nicht zu beurteilen war, deutet dieses Urteil darauf hin, dass der EGMR – anders als ein großer Teil der Lehre – solche Differenzierungen nach dem Schutzstatus nicht generell als diskriminierend beurteilt.

Nun ist der Gesetzgeber gefordert

Die in § 35 Abs 2 AsylG vorgesehene Wartefrist von drei Jahren kann vor diesem Hintergrund nicht aufrecht erhalten werden. Auch wenn Urteile des EGMR für andere Staaten nicht unmittelbar bindend sind, muss diese Bestimmung geändert werden, um einer „Verurteilung“ Österreichs in Straßburg zuvorzukommen. An der Konventionswidrigkeit einer absolut geltenden Wartefrist von drei Jahren für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten kann jedenfalls kein Zweifel bestehen. Daran ändert auch die abweichende Rechtslage in Dänemark nichts. Denn wenn eine derart lange Trennung Bürgerkriegsflüchtlingen, die nach dänischem Recht bloß einen vorübergehenden Schutzstatus erhalten, nicht zugemutet werden kann, gilt dies erst recht für subsidiär Schutzberechtigte.

Gefordert ist in erster Linie der Gesetzgeber, der entweder die Frist verkürzen oder die Möglichkeit schaffen muss, immer dann im Einzelfall schon vor ihrem Ablauf eine Familienzusammenführung zu gestatten, wenn dies durch das Recht auf Achtung des Familienlebens geboten ist. Ob die Frist verkürzt oder eine Ausnahmeregel – etwa nach dem Vorbild des § 35 Abs 4 Z 3 AsylG (Absehen von den materiellen Erteilungsvoraussetzungen, wenn dies durch Art 8 EMRK geboten ist) – geschaffen wird, liegt im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Sichergestellt werden muss jedenfalls, dass die Wartefrist keine unverhältnismäßig lange Trennung von Familienmitgliedern bewirkt.

Zu bedenken ist bei einer möglichen Neuregelung, dass sich das Urteil M. A. vs. Dänemark nur auf den Ehegattennachzug bezieht. Sobald es (auch) um Kinder geht, müssen wegen des Gebots der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls strengere Maßstäbe gelten. Vor allem ist mehr als fraglich, ob eine zweijährige Wartefrist, wie sie die Große Kammer für den Ehegattennachzug als akzeptabel ansieht, auch bei Minderjährigen mit Art 8 EMRK vereinbar wäre. Dies spricht für die Berücksichtigung des Familienlebens in Form einer Ausnahmeregelung oder für die Rückkehr zu der vergleichsweise kurzen Frist von einem Jahr, wie sie bis 2016 galt.

Ob und wie rasch der Gesetzgeber auf dieses Urteil reagieren wird, lässt sich jedenfalls schwer vorhersagen. Das führt zur Frage, welche Optionen sich für Betroffene aus der neuen Rspr ergeben.

Neuerliche Anrufung des VfGH liegt nahe

In seinem Erkenntnis E 4248/2017 erteilte der VfGH der dreijährigen Wartefrist seinen Segen. Die Begründung fiel allerdings dürftig aus. Zwar referierte der VfGH die wesentlichen Eckpunkte der Rechtsprechung des EGMR zur Familienzusammenführung, beschränkte sich dann aber darauf festzustellen, die Wartefrist falle wegen des von vornherein provisorischen Charakters des subsidiären Schutzes in den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Auch die ausnahmslose Geltung der Frist wurde nicht beanstandet, wobei sich der VfGH wiederum darauf stützte, der Gesetzgeber gehe zu Recht davon aus, dass sich der Aufenthalt erst nach drei Jahren verfestige.

Zu überzeugen vermochte diese Begründung schon damals nicht, wie die einhellige Kritik der Lehre deutlich machte (vgl Immervoll/Frühwirth, Statusdifferenzierungen in der Familienzusammenführung, in Salomon (Hrsg), Der Status im europäischen Asylrecht (2020) 161 (172 ff); Kaspar, Differenzierungen zwischen Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten – Eine grundrechtliche Betrachtung am Beispiel der aktuellen VfGH-Judikatur, NLMR 2020, 5). Vor dem Hintergrund des Urteils M. A. vs. Dänemark ist nun klar, dass es dem VfGH im Fall einer neuerlichen Anrufung schwer fallen wird, an dieser Rechtsansicht festzuhalten. Die Feststellungen der Großen Kammer sind schlicht zu eindeutig. Angesichts der großen Ähnlichkeit der österreichischen Rechtslage bedürfte es schon einiger Kreativität, um weiterhin deren Vereinbarkeit mit Art 8 EMRK zu behaupten. Dies gilt umso mehr für die Geltung der Frist im Hinblick auf Kinder –erst recht wenn der Verlust der Familienangehörigeneigenschaft vor deren Ablauf droht („age-out“).

Konsequenzen für die Beratungspraxis

Für die Praxis ergeben sich aus dem Urteil M. A. vs. Dänemark gewisse Optionen. Auch wenn der Ausgang eines solchen Verfahrens schwer vorhergesagt werden kann, erscheint es ratsam, Anträge auf Erteilung eines Einreisetitels zur Familienzusammenführung mit subsidiär Schutzberechtigten auch in Fällen einzubringen, in denen die Statuszuerkennung noch keine drei Jahre zurückliegt. Vor der Vertretungsbehörde bzw dem BVwG sollte unter Verweis auf dieses Urteil die Verfassungswidrigkeit der dreijährigen Frist geltend gemacht werden. Während das BFA weiterhin an § 35 Abs 2 AsylG gebunden ist, muss (!) das BVwG gemäß Art 89 Abs 2 B-VG eine verfassungsgerichtliche Normprüfung einleiten. Es liegt dann letztendlich am VfGH, dem derzeitigen menschenrechtswidrigen Zustand möglichst rasch ein Ende zu bereiten.


 

Ein weiterer Beitrag zur Konventionswidrigkeit der dreijährigen Wartefrist für die Familienzusammenführung subsidiär Schutzberechtigter von DDr. Philip Czech findet sich in der aktuellen Ausgabe der FABL.


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