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Die Ausreisefreiheit ohne Reisedokumente – Praktisch und effektiv gewährleistet? Teil 1: Eine menschenrechtliche Analyse

10. Mai 2023 in Beiträge
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Tags: Ausreisefreiheit, Freizügigkeit, Fremdenpass

Dr.in Lioba Kasper

Dr.in Lioba Kasper war bis Juni 2022 als angestellte Rechtsanwältin in einer auf öffentliches Recht spezialisierten Kanzlei tätig. In ihren Vortrags- und Lehrtätigkeiten sowie Fachpublikationen liegt ihr Schwerpunkt auf menschenrechtlichen Themenstellungen. Zudem ist sie Mitherausgeberin des Jahrbuchs Asyl- und Fremdenrecht.


Gemäß Art 2 Abs 2 4. ZP EMRK steht es jedermann frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen. Damit postuliert die EMRK ein allgemeines Grundrecht, auch Jedermannsrecht genannt, auf Ausreisefreiheit. Wie der EGMR in jüngster Rechtsprechung festhielt, muss dieses Grundrecht auch praktisch und effektiv von den Konventionsstaaten gewährleistet werden, wofür es gegebenenfalls auch der Ausstellung eines Reisedokumentes bedarf.

Die Ausreisefreiheit im internationalen Menschenrechtsregime

Das Recht auf freie Ausreise aus jedem Land und für jede Person findet sich bereits verankert in Art 13 Abs 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie in Art 12 Abs 2 des Internationalen Paktes vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte. Mit Art 2 Abs 2 4. ZP EMRK wurde die Ausreisefreiheit als Teil des Rechts auf Freizügigkeit auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert. Ebenso wird die Freizügigkeit mit Art 45 Abs 2 Grundrechtecharta für aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige garantiert, wobei sich aus dieser Bestimmung wohl kein subjektiver Rechtsanspruch ergibt. Jedoch sieht auch das Unionsrecht Reisefreiheiten für in der Europäischen Union Aufenthaltsberechtigte aus einem Drittstaat vor (unter anderem für den kurzfristigen Aufenthalt auf Basis des Schengener Übereinkommens sowie bei langfristig Aufenthaltsberechtigten im Rahmen der Daueraufenthaltsrichtlinie). Damit handelt es sich bei dem Grundrecht um einen festen Bestandteil des internationalen Menschenrechtsschutzes und wird vom Gedanken eines Europas ohne Grenzen getragen.

Die Ausreisefreiheit nach der EMRK

Auf Grundlage von Art 2 Abs 2 4. ZP EMRK haben Drittstaatsangehörige im Hoheitsgebiet der Konventionsstaaten die Freiheit, den Konventionsstaat zu verlassen, sofern sich die Personen rechtmäßig im Hoheitsgebiet aufhalten. Nicht garantiert ist hiervon das Recht auf Einreise oder auch auf Rückkehr. Das Grundrecht erfährt somit bereits dadurch eine Einschränkung, als es dem:der Grundrechtsträger:in nur die Ausreise in jenen Staat garantiert, in welchen sie auch zugelassen wird. Geschützt ist jedoch nicht nur die dauerhafte Ausreise, sondern auch jene nur vorübergehender Natur, wie etwa eines Urlaubs.

Ein Eingriff ist nur dann zulässig, wenn er gesetzlich vorgesehen ist und eines oder mehrere der in Art 2 Abs 3 4. ZP EMRK genannten legitimen Ziele verfolgt. Weiters muss der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ und verhältnismäßig sein, um ein solches Ziel zu erreichen. Abs 3 leg cit benennt die Ziele, aufgrund derer Einschränkungen in das Grundrecht legitim sein können, wie folgt: die nationale oder öffentliche Sicherheit, die Aufrechterhaltung des ordre public, die Verhütung von Straftaten, der Schutz der Gesundheit oder der Moral oder der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

Die Versagung eines Reisedokumentes – ein Eingriff in das Grundrecht?

Sowohl das einschlägige Unionsrecht als auch internationale Gepflogenheiten sehen vor, dass Reisende für die Einreise in einen anderen Staat im Besitz eines idR gültigen Reisedokumentes sein müssen. Die völkerrechtliche Passhoheit obliegt für gewöhnlich jenem Staat, dessen Staatsangehörigkeit die betroffene Person besitzt und kann nur im Ausnahmefall von dieser internationalen Gepflogenheit abgewichen werden.

Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nicht davon ausgeht, dass das Grundrecht den Konventionsstaaten eine allgemeine Pflicht auferlegt, ein bestimmtes Dokument für Reisen ins Ausland auszustellen, so bekräftigt er doch in gefestigter Rechtsprechung, dass die in der Konvention verbrieften Rechte praktisch und effektiv und nicht theoretisch und illusorisch einzuhalten sind (vgl. etwa EGMR 9.7.2021, M.A. gegen Dänemark, 6697/18, Rz 162). Der EGMR hat in diesem Sinne bereits wiederholt judiziert, dass der Entzug oder die Vorenthaltung von Reisedokumenten einen Eingriff in die durch Art 2 Abs 2 4. ZP EMRK garantierten Rechte darstellen kann und nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist (vgl etwa EGMR 27.3.2018, Berkovich ua gegen Russland, 5871/07, Rz 78). Als legitime Ziele werden in der Rechtsprechung etwa Beschränkungen von Auslandsreisen zur Sicherung einer Strafverfolgung oder Verhütung von Straftaten angesehen. Auch im Falle von Steuerschulden, der Verweigerung, den Kindesunterhalt zu zahlen, oder bei Personen im Insolvenzverfahren wurden Beschränkungen als legitim erachtet. Im nationalen Interesse können Ausreisebeschränkungen auch bei früheren Träger:innen von Staatsgeheimnissen zulässig sein.

In der Rechtssache L.B. gegen Litauen (EGMR 14.6.2022, 38121/20) befasste sich der EGMR nun erstmals mit der Beschwerde eines rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen und der Frage, ob die Versagung der Ausstellung eines Reisedokumentes eine Verletzung des Rechts auf Ausreisefreiheit gemäß Art 2 Abs 2 4. ZP EMRK darstellt.

Rechtssache L.B. gegen Litauen: Die Ausreisefreiheit – ein Jedermannsrecht

Der Fall betraf die Weigerung der litauischen Behörden, einem russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft, der seinen ständigen Wohnsitz in Litauen hat und dem vor Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltsberechtigung eine Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zukam, einen Fremdenpass auszustellen. Im litauischen Recht kann – im Übrigen ähnlich dem österreichischen Recht – ein Fremdenpass ausgestellt werden, wenn die Drittstaatsangehörige über eine befristete oder unbefristete Aufenthaltsberechtigung verfügt, keinen Reisepass oder ein gleichwertiges Reisedokument eines anderen Staates hat und sie aus objektiven Gründen nicht in der Lage ist, ein solches Dokument von den Behörden ihres Herkunftslandes zu erhalten. Begründet wurde die Weigerung im konkreten Fall damit, dass sie zur Aufrechterhaltung des ordre public notwendig und auch anderen Personen tschetschenischer Herkunft ein Reisedokument von Seiten der russischen Botschaft ausgestellt worden sei.

Der EGMR stellte zunächst – in Übereinstimmung mit der litauischen Regierung – fest, dass die Versagung der Ausstellung eines Fremdenpasses für den rechtmäßig Aufenthaltsberechtigten einen Eingriff in sein Recht auf Freizügigkeit darstellte. Er bestätigte weiters, dass der Eingriff im Einklang mit dem Gesetz erfolgte. Ohne die Frage zu beantworten, ob der beanstandete Eingriff ein legitimes Ziel verfolgte, sah er die Versagung jedoch nicht als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ an. Im Wesentlichen hielt der EGMR fest, dass die Versagung, dem Beschwerdeführer einen Fremdenpass auszustellen, erfolgte, ohne eine Abwägung im Einzelfall vorgenommen und sichergestellt zu haben, dass eine solche Maßnahme in seiner individuellen Situation gerechtfertigt und verhältnismäßig war. Es wurde nicht geprüft, ob es konkret dem Beschwerdeführer möglich gewesen wäre, ein Reisedokument seines Herkunftsstaates zu erhalten, sondern erfolgte die Ablehnung lediglich aus formalistischen Gründen, nämlich dem Verweis auf vergleichbare Fälle, weswegen der EGMR eine Verletzung von Art 2 4. ZP EMRK feststellte.

Damit erkannte der EGMR jedenfalls implizit auch für rechtmäßig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige an, dass die durch die EMRK geschützte Ausreisefreiheit ohne ein Reisedokument praktisch unwirksam ist.


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