Recht und Wissenschaft in Österreich

Blog Asyl Newsletter

Wenn Sie über neue Beiträge am Blog Asyl informiert werden wollen, registrieren Sie sich hier für den Newsletter

EuGH: Aberkennung von Asyl bei Straffälligkeit erfordert keine Güterabwägung, aber muss verhältnismäßig sein; das Erlassen einer Rückkehrentscheidung ist nicht zulässig, wenn der Grundsatz der Nichtzurückweisung dieser dauerhaft entgegensteht; eine Kumulation minderschwerer Straftaten kann nicht zur Aberkennung wegen einer besonders schweren Straftat führen


Der EuGH entschied am 6.7.2023 in der Rechtssache C-663/21 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof mit der Entscheidung vom 20.10.2021, im Verfahren Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gegen AA, wegen Duldung eines ehemals Asylberechtigten nach Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund von Straffälligkeit (EuGH 6.7.2023, C‑663/21).

AA wurde 2015 der Flüchtlingsstatus in Österreich zuerkannt. In den Jahren 2018 und 2019 wurde AA mehrmals wegen Begehung schwerer Verbrechen verurteilt. Aufgrund dieser Verurteilungen „entzog das BFA AA die Flüchtlingseigenschaft, lehnte die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus oder eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen ab, erließ gegen AA eine mit einem Aufenthaltsverbot einhergehende Rückkehrentscheidung und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest, stellte jedoch fest, dass seine Abschiebung nicht zulässig sei“. Gegen diese Entscheidung erhob AA Beschwerde beim BVwG.

Das BVwG stellte fest, dass AA eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Allerdings sei AA bei Rückkehr in sein Herkunftsland einem Folter- und Todesrisiko ausgesetzt, weshalb die Interessen des AA die Interessen der Republik Österreich überwögen. Eine Aberkennung des Asylstatus sei daher unzulässig. Das BFA legte gegen dieses Erkenntnis Amtsrevision beim VwGH, dem vorlegenden Gericht, ein.

Der VwGH setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren zwei Fragen vor. Zunächst legte der VwGH dem EuGH die Frage vor, ob im Aberkennungsverfahren bei Straffälligkeit eine Güterabwägung zwischen den öffentlichen Interessen für die Rückführung und den Interessen des Flüchtlings am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat durchgeführt werden muss, wobei die Verwerflichkeit des Verbrechens und das Ausmaß und die Art, der dem Fremden drohenden Maßnahmen im Herkunftsland einzubeziehen sind. Zweitens stellte der VwGH die Frage, ob eine Rückkehrentscheidung gegen einen Fremden gegen EU-Recht verstößt (insbesondere Art. 5, 6, 8 und 9 der Richtlinie 2008/115), wenn bereits im Zeitpunkt der Erlassung feststeht, dass eine Abschiebung den Grundsatz der Nichtzurückweisung verletzen würde und daher auf Dauer unzulässig ist.

Nach ständiger Rechtsprechung des VwGH erforderte eine Aberkennung aufgrund von Straffälligkeit bei schweren Straftaten gem § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 das Erfüllen von vier Voraussetzungen, wobei die o.g. Güterabwägung, neben der Gefahr für die Allgemeinheit, dem Vorliegen einer besonders schweren Straftat und einer rechtskräftigen Verurteilung, eine dieser Voraussetzungen darstellte. Der EuGH bestätigt drei  der Prüfschritte des VwGH, jedoch nicht die Erforderlichkeit der Güterabwägung. Demnach verlangt Art. 14 Abs. 4 lit. b der Richtlinie 2011/95, dass der Fremde 1. eine Gefahr für den Aufnahmestaat darstellt, 2. eine besonders schwere Straftat beging und 3. dafür bereits rechtskräftig verurteilt wurde. Allerdings stellt der EuGH in Beantwortung der ersten Frage fest, dass die oben genannte Güterabwägung nicht von Art. 14 Abs. 4 lit. b der Richtlinie 2011/95 gedeckt ist.

Ferner führt der EuGH eine andere Voraussetzung ins Treffen. Laut EuGH muss eine Aberkennung verhältnismäßig sein. Hierzu sollen die Gefahr, die vom Fremden ausgeht, und die Rechte des Fremden, die ihm durch die Richtlinie 2011/95 zu gewährleisten sind, miteinander abgewogen werden. Anders als in der bisherigen Rechtsprechung des VwGH wird eine Bewertung des Ausmaßes und der Art der dem Fremden drohenden Maßnahmen bei Rückkehr ins Herkunftsland nicht einbezogen.

Außerdem stellt der EuGH über das Kriterium der besonders schweren Straftat fest, dass das Begehen von mehreren Straftaten, die einzeln nicht als besonders schwere Straftaten zu qualifizieren sind, nicht kumulativ als besonders schwere Straftat zu werten sind. Es muss mindestens eine besonders schwere Straftat begangen worden sein, um eine Aberkennung iSd Art. 14 Abs 4 lit b) der Richtlinie 2011/95 durchführen zu können (siehe RZ 31).

Zur zweiten Frage hielt der EuGH fest, dass das Erlassen einer Rückkehrentscheidung gegen Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verstößt, wenn im Zeitpunkt der Erlassung bereits feststeht, dass eine Rückbringung in das Herkunftsland des Fremden laut dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen ist. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung ist „in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens“ einzuhalten. Eine Rückkehrentscheidung trotz „Annahme, dass der Drittstaatsangehörige im Fall der Vollstreckung der Entscheidung der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art 18 oder Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre“, ist jedenfalls nicht mit Art. 5 der Richtlinie 2008/115 zu vereinbaren.

Zusammenfassend stellt der EuGH in der Rechtssache C-663/21 fest, dass die in der Rechtsprechung bislang erforderliche Güterabwägung nicht von Art. 14 Abs. 4 lit. b der Richtlinie 2011/95 gedeckt ist und dass das Erlassen einer Rückkehrentscheidung, wenn im Zeitpunkt der Erlassung bereits feststeht, dass eine Rückbringung in das Herkunftsland des Fremden nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen ist, nicht mit Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Einklang zu bringen ist.

Bearbeitet von: Maximilian Funder, LL.B., BA


Twitter Facebook Linkedin Email Print Whatsapp Telegram

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Weitere Beiträge