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EU einigt sich auf Asylreform

15. Februar 2024 in Beiträge
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Tags: Asylreform, Einigung, GEAS, neue Rechtsakte

Mag. Andreas Pongratz, LL.M.

Mag. Andreas Pongratz, LL.M. ist Hauptreferent in der Abteilung Asyl im Innenministerium und für die Verhandlungen der Rechtsakte des gemeinsamen europäischen Asylsystems mitverantwortlich. 2022-2023 war er stellvertretender Delegationsleiter bei den Verhandlungen zu den Rechtsakten des GEAS in der Ratsarbeitsgruppe Asyl.

Mag. Nikolaus Nöhrer

Mag. Nikolaus Nöhrer ist Hauptreferent in der Abteilung Asyl im Innenministerium und für die Verhandlungen der Rechtsakte des gemeinsamen europäischen Asylsystems mitverantwortlich. Zudem ist er nationaler Kontaktpunkt für das Third Country Cooperation Network der EUAA.


Am 20.12.2023 erzielten das Europäische Parlament und der Rat eine politische Einigung zur umfassenden Reform der EU-Gesetzgebung für das Gemeinsame Europäische Asylsystem. Die formelle Beschlussfassung soll in den kommenden Wochen folgen. Neu sind ein Mechanismus für Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, verpflichtende Grenzverfahren und eine eigene Verordnung für Krisenfälle.

Die Verhandlungen zur Reform

In der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 2023 gelang, was der Vizepräsident der EU-Kommission Margaritis Schinas am nächsten Morgen als „historisch“ bezeichnete: die politische Einigung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Diese Einigung stellt einen großen Durchbruch dar, da insbesondere seit der Flüchtlingskrise von 2015/2016 und den dabei zutage getretenen Systemschwächen eine Neugestaltung des europäischen Rechtsrahmens für Asyl und Migration seit Jahren intensiv verhandelt wurde. Nach anfänglich nur zögerlichen Fortschritten wurde im Jahr 2020 von der Europäischen Kommission der „Pakt für Asyl und Migration“ vorgelegt, der den Stillstand in den Verhandlungen durchbrechen und insbesondere die Aspekte Zuständigkeit, Solidarität und Steuerung der Migration umfassend neu regeln sollte. Dieser Pakt bildete mit seinen Neuvorschlägen die Grundlage für die folgenden Verhandlungen, die nun in der verkündeten Einigung gipfelten.

Bereits beim Rat der Innenminister im Juni 2023 konnte man sich auf Ratsebene auf konkrete Legislativvorschläge zu den zwei wichtigsten Rechtsakten der Reform einigen: die Asyl- und Migrationsmanagements-Verordnung und die Asylverfahrens-Verordnung.  Dies ebnete den Weg zur Eröffnung des Trilogs – den finalen Verhandlungen zwischen den gesetzgebenden europäischen Institutionen Rat, Kommission und Parlament. Das Europäische Parlament ging jedoch mit eigenen Reformvorstellungen in diese Verhandlungen, die sich zum Teil erheblich von der Position des Rates unterschieden. Es bedurfte im letzten Halbjahr daher eines diplomatischen und legistischen Kraftaktes, um in allen wesentlichen Punkten rechtzeitig eine Einigung zu erreichen und so das Ziel der Annahme des Gesamtpakets vor Ende der Legislaturperiode des Parlaments 2024 weiterhin verfolgen zu können. Das Parlament und der Rat einigten sich dabei insgesamt auf die inhaltlichen Grundlagen gleich mehrerer EU-Verordnungen und Richtlinien, die festlegen, wie das europäische Asylsystem in Zukunft ausgestaltet sein soll.

Mehr Solidarität

So wird beispielsweise die Dublin-III-Verordnung in der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung, die erstmals auch einen umfassenden Solidaritätsmechanismus enthält, aufgehen. Hierbei wurde ein flexibles, aber verpflichtendes System entwickelt, bei dem Unterstützungsleistungen für Mitgliedstaaten unter besonderem Migrationsdruck wahlweise durch Relokationen, finanzielle Leistungen und alternative Solidaritätsleistungen erbracht werden können. Der besondere Migrationsdruck, welcher den Solidaritätsmechanismus auslöst, wird von der Europäischen Kommission unter Berücksichtigung einer Vielzahl an Zahlen, Daten und Fakten festgestellt. „Vorbelastungen“ werden insofern berücksichtigt, als jahrelang stark betroffene Mitgliedstaaten von der Verpflichtung zur Leistung von Solidaritätsbeiträgen vollständig ausgenommen werden können. Positiv ist festzuhalten, dass es Solidaritätsleistungen nur für belastete Mitgliedstaaten geben wird, wenn sie keine systematischen Mängel in ihren Asyl- und Aufnahmesystemen aufweisen. Dies sollte Anreiz für alle Mitgliedstaaten sein, ihre nationalen Systeme adäquat aufzustellen und alle geltenden Regeln vollständig und somit auch menschenrechtskonform umzusetzen.

Die bisherigen Zuständigkeitsregeln der Dublin-III-Verordnung, insbesondere auch hinsichtlich der Zuständigkeit des Ersteinreisestaates, werden im Wesentlichen beibehalten. Jedoch werden familienrelevante Kriterien stärker berücksichtigt werden und es wird ein neues Zuständigkeitskriterium bei Abschluss einer Ausbildung in einem Mitgliedstaat eingeführt.

Eine Verordnung für das Verfahren

Um das erklärte Ziel einer größeren Harmonisierung zu erreichen, wird das Asyl-Verfahrensrecht erstmals unmittelbar in Form einer Verordnung geregelt sein und darüber hinaus auch systemische Neuerungen wie verpflichtende Außengrenzverfahren mit sich bringen. Diese Grenzverfahren sind in bestimmten Fällen an der Außengrenze der Union zu führen und sollen etwa dann verpflichtend sein, wenn Asylwerber:innen aus einem Herkunftsstaat mit einer Anerkennungswahrscheinlichkeit von unter 20 Prozent kommen, ein Sicherheitsrisiko darstellen oder die Behörden getäuscht haben. Zudem sind diese Grenzverfahren durch Kapazitätsobergrenzen limitiert. Neben einer Grundkapazität von maximal 30.000 gleichzeitig laufenden Grenzverfahren wird es unionsweit eine jährliche Obergrenze von insgesamt 120.000 Grenzverfahren geben, der man sich über die ersten Jahre nach Inkrafttreten der Reform stufenweise nähern wird.

Die neue Verfahrens-Verordnung wird auch vorsehen, dass Asylwerber:innen bereits im administrativen Verfahren Anspruch auf eine Art von kostenloser Rechtsberatung („counselling“) haben. Der Umfang dieser Rechtsberatung ist jedoch geringer als jener der kostenlosen Rechtshilfe und -vertretung, die schon bisher in zweiter Instanz unentgeltlich zu gewähren ist. Für diese neue Form der verpflichtenden Rechtsberatung können die Unterstützung der Asylagentur (EUAA) sowie eine finanzielle Unterstützung aus Unionsmitteln beantragt werden. Für die Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats wird, wie es schon im bisherigen Acquis vorgesehen war, weiterhin eine Verbindung zwischen dem Asylsuchenden und dem Drittstaat erforderlich sein. Darüber hinaus soll es ein Jahr nach dem Inkrafttreten der Verordnung eine Evaluierung der Anwendung des sicheren Drittstaatskonzepts geben und sollen gegebenenfalls Änderungsvorschläge vorgelegt werden.

Neue Rechtsakte

Völlig neu ist die Verordnung für Krisenfälle, die mit dem Ziel geschaffen wurde, besser auf einen plötzlichen Anstieg der Ankünfte, „krisenauslösende“ Fälle von höherer Gewalt und auch Instrumentalisierung von Migrant:innen durch externe Akteure reagieren zu können. Das Gesamtsystem soll dadurch für Krisen- und besondere Ausnahmesituationen vorbereitet werden. Um im Krisenfall unmittelbar betroffene Staaten unterstützen zu können, werden für den jeweiligen Zeitraum der Krise besondere Verfahrensregeln gelten und ein eigener Solidaritätsmechanismus zur Anwendung kommen.

Mit der Überarbeitung der EURODAC-Verordnung und der ebenfalls neuen Screening-Verordnung sollen die Erfassung und Registrierung von Migrant:innen unmittelbar nach Ankunft verbessert und als Grundlage für die anknüpfenden Verfahren besser nutzbar gemacht werden. Die Screening-VO verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Überprüfung aller Ankommenden an den Außengrenzen, bei der neben Identitätsfeststellung und Sicherheitskontrollen auch ein Gesundheits- und Vulnerabilitäts-Check sowie die Weiterleitung in die passende Verfahrensart erfolgen wird.

Im Rahmen von EURODAC soll es zukünftig zu einer deutlichen Erweiterung der gespeicherten Daten und Informationen kommen, wobei die Dauer der jeweiligen Speicherungen ausgeweitet wird. Unter anderem ist die Registrierung biometrischer Daten vorgesehen und wird es zudem neue Speicherkategorien geben, etwa bei Feststellung eines illegalen Aufenthalts. EURODAC soll zu einer umfassenden Migrationsdatenbank werden. Dabei soll EURODAC nicht nur die Feststellung des zuständigen Mitgliedstaats unterstützen, sondern mit anderen Datenbanken vernetzt werden und dadurch eine echte Interoperabilität der vorhandenen Systeme ermöglichen.

Umsetzung in die Praxis

Nach der Einigung auf alle Eckpunkte der Reform sollen die Gesetzestexte nun auf technischer Ebene finalisiert und unter der aktuellen belgischen Ratspräsidentschaft noch in diesem Halbjahr formell verabschiedet werden. Die anschließende Umsetzung der neuen Regeln wird die Behörden der Mitgliedstaaten wie auch die Europäische Kommission vor große Herausforderungen stellen. Die Bestimmungen des neuen europäischen Asylsystems zeichnen sich durch ein sehr hohes Maß an Komplexität aus. Diese Komplexität ist auch Ergebnis der erforderlichen Kompromisse im Verhandlungsprozess. Dies betrifft viele Verfahrensbestimmungen, aber auch die Prozesse zur Feststellung von Migrationsdruck und den daran anknüpfenden Solidaritätsmechanismus. Jedenfalls ist damit zu rechnen, dass die Umsetzung der Bestimmungen zu einem hohen administrativen Aufwand führen wird und letztlich der EuGH eine Vielzahl an Auslegungsfragen klären wird müssen. Die praktischen Auswirkungen, etwa der verpflichtenden Grenzverfahren oder der Ausnahmetatbestände der Krisen-Verordnung auf das Gesamtsystem, sind noch schwer abzuschätzen. Die Praxistauglichkeit des neuen Rechtsrahmens muss sich also erst noch erweisen und wird die Zukunft zeigen, ob man durch die Reform, wie erhofft, eine nachhaltige Verbesserung des Systems erreichen konnte.


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