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EuGH: Zur Zulässigkeit von Dublin-Überstellungen im Falle pauschaler Zurückweisungen („pushback“) und Inhaftnahmen an Grenzübergangsstellen des zuständigen Mitgliedstaats

15. März 2024 in Rechtsprechung
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Der EuGH hat sich am 29. Februar 2024 in einem niederländischen Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache C-392/22 zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Rahmen der Überstellung eines Asylwerbers nach den Vorschriften der Dublin III-VO sowie zum Beweismaßstab für die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung infolge systemischer Schwachstellen – Praktiken der pauschalen Zurückschiebung („pushback“) und der Inhaftnahme an Grenzübergangsstellen – geäußert.

Das Ausgangsverfahren betraf einen syrischen Asylwerber, der im November 2021 zunächst in Polen und dann in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Die Niederlande ersuchten Polen um Wiederaufnahme des Asylwerbers und wiesen seinen Antrag mit Verweis auf die Zuständigkeit Polens zurück. Gegen diese Dublin-Entscheidung erhob der Antragsteller Beschwerde, da er befürchtete, im Falle der Überstellung in eine seine Grundrechte verletzende Situation zu geraten. Er gab an, von Polen dreimal nach Belarus zurückgedrängt worden zu sein, dass dort Inhaftierungen an Grenzübergangsstellen angewendet wurden und dass die polnischen Gerichte nicht unabhängig seien. Die Rechtsbank Den Haag hat sich daraufhin an den EuGH gewandt.

Der Gerichtshof hält fest, dass pauschale Zurückweisungen und Haftmaßnahmen an Grenzübergangsstellen, wie sie das vorlegende Gericht im konkreten Fall festgestellt hat, mit dem Unionsrecht unvereinbar sind und gravierende Mängel im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen für Antragsteller darstellen. Zum einen verstoße die Praxis der pauschalen Zurückweisungen gegen Art. 6 der Richtlinie 2013/32, der eine der Grundlagen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems sei. Zum anderen könne sie gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen, der in Art. 18 GRC in Verbindung mit Art. 33 GFK und Art. 19 Abs. 2 GRC als Grundrecht garantiert ist. In Bezug auf die Praxis der Inhaftierung an Grenzübergangsstellen wird im 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33/EU sowie im 20. Erwägungsgrund 20 der Dublin-III-Verordnung auf den Grundsatz hingewiesen, dass niemand allein deshalb in Gewahrsam genommen werden sollte, weil er internationalen Schutz beantragt.

Der Umstand, dass der für die Prüfung des Antrags eines Drittstaatsangehörigen auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat an seinen Grenzübergangsstellen pauschale Zurückweisungen und Inhaftnahmen vorgenommen hat, steht jedoch nicht zwangsläufig der Überstellung in den Mitgliedstaat, in dem diese Praktiken bestehen, entgegen. Damit eine Überstellung dorthin ausgeschlossen werden kann, müssen die festgestellten Mängel die beiden kumulativen Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung erfüllen, wonach nur „systemische“ Schwachstellen, die „eine Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC mit sich bringen“, eine solche Überstellung unmöglich machen. Die festgestellten Schwachstellen müssen demnach immer noch vorhanden sein und allgemein das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen betreffen, die für Personen, die internationalen Schutz beantragen, oder zumindest für bestimmte Gruppen dieser Antragsteller gelten. Zudem müssen stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige zum Zeitpunkt der Überstellung oder infolge der Überstellung tatsächlich Gefahr liefe, erneut den genannten Praktiken ausgesetzt zu werden, und dass diese Praktiken geeignet sind, ihn in eine Situation extremer materieller Not zu versetzen, die so schwerwiegend ist, dass sie einer nach Art. 4 GRC verbotenen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichkommt.

Hinsichtlich des Maßstabs und der Beweisregeln, die die Anwendung von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin-III-Verordnung ermöglichen, ist mangels besonderer Klarstellung in dieser Bestimmung auf die allgemeinen Bestimmungen und die Systematik dieser Verordnung abzustellen. Daraus folgt, dass der Mitgliedstaat, der mit der Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats betraut ist, zum einen alle Informationen berücksichtigen muss, die ihm der Antragsteller vorlegt, insbesondere in Bezug auf das etwaige Bestehen einer tatsächlichen Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bei oder nach der Überstellung. Zum anderen muss der erstgenannte Mitgliedstaat bei der Ermittlung der Tatsachen mitwirken, indem er das Vorliegen dieser Gefahr auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht verbürgten Schutzstandard für die Grundrechte würdigt und gegebenenfalls von sich aus sachdienliche Informationen zu etwaigen systemischen Schwachstellen im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, im zuständigen Mitgliedstaat berücksichtigt, die ihm nicht unbekannt sein können.

Sind solche Schwachstellen erwiesen und stellen sie ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme dar, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Fall einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat einer tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 4 GRC verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre, so ist davon abzusehen. Der Mitgliedstaat, der die Überstellung durchführen möchte, kann jedoch versuchen, individuelle Garantien vom zuständigen Mitgliedstaat zu erhalten. Wenn solche Garantien gegeben werden und sowohl glaubhaft als auch ausreichend erscheinen, um eine tatsächliche Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auszuschließen, kann die Überstellung dennoch erfolgen.

Bearbeitet von Mag.a Eva-Teresa Steinbauer


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