„Pushbacks“ im nationalen Rechtsverständnis
Wenn in der Öffentlichkeit von „Pushbacks“ die Rede ist, liegt den gemeinten Sachverhalten – umgelegt auf das österreichische Fremdenrecht – eine Zurückweisung oder Zurückschiebung zugrunde. Die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen ist auf einfachgesetzlicher Ebene am Maßstab des § 45a FPG zu beurteilen und setzt voraus, dass kein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. Diese Bestimmung, die in ihrem ersten Absatz u.a. an die EMRK und in ihrem zweiten Absatz an Art. 33 Z 1 GFK anknüpft, normiert das Verbot der Zurückweisung und Zurückschiebung Fremder in einen Staat, wenn dadurch etwa Art. 2 oder 3 EMRK verletzt würde oder stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass dort ihr Leben oder ihre Freiheit aus einem Konventionsgrund bedroht wäre. Als einfachgesetzliche Ausgestaltung des – im ersten Teil dieses Beitrags näher dargestellten – völkerrechtlichen Refoulement-Verbots trägt sie auch der internationalen Verpflichtung Österreichs Rechnung, wie die Materialien (S. 62) hinsichtlich Abs. 2 betonen.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten der fremdenpolizeilichen Maßnahmen des § 45a FPG
Fremde, die versuchen, in das Bundesgebiet einzureisen oder die eingereist sind und z.B. im Grenzkontrollbereich (der im Inland gelegene Bereich innerhalb von 10 km im Umkreis der Grenzübergangsstelle) aufgegriffen werden, können unter den Voraussetzungen des § 41 Abs. 2 FPG bei Landgrenzübergangsstellen anlässlich der Grenzkontrolle zurückgewiesen werden. Zurückweisungen unterliegen somit einer räumlichen Beschränkung. Bei Fremden, die bereits im Bundesgebiet aufhältig sind, kommt bei Erfüllung einer der in § 45 Abs. 1 FPG aufgezählten Tatbestände die Zurückschiebung in Betracht. Beide Maßnahmen sind aber nicht zulässig, wenn ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. Der Zurückweisung (S. 93) und der Zurückschiebung geht kein (formalisiertes) Verwaltungsverfahren voran. Beiden ist zudem gemeinsam, dass sie als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt zu qualifizieren und damit – wenngleich erst nach Vollzug der Maßnahme – selbständig bekämpfbar sind.
Rahmenbedingungen für Grenzkontrollen an den Binnengrenzen
Wie kann es im Schengenraum überhaupt zu Binnengrenzkontrollen kommen? Unionsrechtlich ist die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen – als Ausnahme der in Art. 22 festgelegten „Grundregel“ – in Art. 25 ff Schengener Grenzkodex normiert und unter außergewöhnlichen Umständen sowie innerhalb der vorgegebenen Fristen zulässig. Innerstaatlich sieht § 10 Abs. 2 GrekoG, der das Überschreiten der Binnengrenze an jeder Stelle für zulässig erklärt, eine Verordnungsermächtigung vor, um Binnengrenzkontrollen einzuführen, wenn es zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit geboten erscheint. In solchen Fällen sind für einen bestimmten Zeitraum bestimmte Abschnitte der Binnengrenze nur an Grenzübergangsstellen zu überschreiten, was Zurückweisungen bei Landgrenzübergangsstellen gemäß § 41 FPG ermöglicht.
Von der im nationalen Recht vorgesehenen Ermächtigung wurde in der Vergangenheit wiederholt Gebrauch gemacht und die Gültigkeit der jeweiligen Verordnungen mehrmals nacheinander verlängert. Das LVwG Steiermark hatte anlässlich der Anwendung einer Bestimmung des Passgesetzes Zweifel, ob eine Kumulation von Verlängerungszeiträumen, die durch aneinandergereihte Verordnungen entsteht, unionsrechtskonform ist. Dieses Vorabentscheidungsersuchen hat der EuGH Ende April beantwortet: Die neuerliche Anwendung des für Binnengrenzkontrollen vorgesehenen Gesamtzeitraums von sechs Monaten ist nur dann gerechtfertigt, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass eine neue ernsthafte Bedrohung für seine öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit vorliegt. Ausgehend davon führte der EuGH aus, dass Österreich seit November 2017 nicht nachgewiesen zu haben scheint, dass eine neue Bedrohung nach Art. 25 Schengener Grenzkodex vorliegt, was aber, so der Gerichtshof, vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist. In Hinblick auf die mit Sanktionen bedrohte Verpflichtung, bei der Einreise einen Reisepass vorzuzeigen, hielt der EuGH zudem fest, dass eine solche nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen, in deren Rahmen diese Verpflichtung auferlegt wird, gegen Art. 25 Abs. 4 Schengener Grenzkodex verstößt. Zuletzt verordnete der Bundesminister für Inneres im Mai die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen zur Republik Slowenien und zu Ungarn mit Dauer bis zum 11. November 2022. Er rechtfertigte dies gegenüber der Kommission mit zunehmender Sekundärmigration, der Situation an den EU-Außengrenzen und den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine.
Die in den letzten Jahren dokumentierte Anzahl an Zurückweisungen ist zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf Zurückweisungen an den Binnengrenzen zurückzuführen, die nur bei aufrechten Binnengrenzkontrollen in Betracht kommen. Während des Zeitraums 2017 bis 2019 (S. 4) sticht insbesondere das Jahr 2017 mit 2.242 Zurückweisungen, davon allein 1.491 an den Binnengrenzen, hervor. Die übrigen Zurückweisungen erfolgten an den internationalen Flughäfen. Im Jahr 2022 (Stand April 2022) gab es laut Statistik des BMI bisher insgesamt 514 Zurückweisungen.
Die Rechtsnormen für die Durchführung von solchen Kontrollen stehen in Hinblick auf ihre Unionsrechtskonformität allerdings seit Langem in der Kritik; ihnen setzte der EuGH durch das Erfordernis einer neuen Bedrohung nun enge Grenzen. Dadurch steht auch die Grundlage für Zurückweisungen an den Binnengrenzen auf unsicherem Boden, wenngleich eine unmittelbare Auswirkung nicht zu erwarten ist. Der VwGH stellte in einem die Revision, die lediglich unionsrechtliche Bedenken gegen die damalige Verordnung geltend machte, zurückweisenden Beschluss für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Zurückweisung darauf, dass die Einreise der revisionswerbenden Parteien nicht rechtmäßig war, sowie auf die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des § 41 Abs. 2 FPG ab. Für diese Beurteilung erachtete er es als unerheblich, ob die durchgeführte Grenzkontrolle auf einer allenfalls unionsrechtswidrigen Rechtsgrundlage basierte. Der EuGH hat sich zu einer solchen Konstellation noch nicht explizit geäußert.
Rückübernahmeabkommen und die Grenzen ihres Anwendungsbereichs
Gemäß § 52 Abs. 7 FPG ist von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung abzusehen, wenn ein Fall des § 45 Abs. 1 vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der/die Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll (siehe auch Art. 6 Abs. 3 Rückführungsrichtlinie). In diesen Fällen geht eine Zurückschiebung einem Verfahren über eine Rückkehrentscheidung vor. Österreich und die EU haben eine Vielzahl solcher Rückübernahmeabkommen mit anderen Staaten geschlossen. Sie regeln u.a. die Übernahme von Drittstaatsangehörigen an den jeweiligen Grenzübergängen. Grundsätzlich verpflichtet sich darin die jeweilige Vertragspartei, aus dessen Staatsgebiet der/die Drittstaatsangehörige rechtswidrig in den anderen Vertragsstaat eingereist ist, zur Übernahme des/der Drittstaatsangehörigen (vgl. auch § 19 FPG).
Auch wenn bei der Zurückweisung oder Zurückschiebung kein förmliches Verfahren vorgesehen ist, sollen Fremde nach den Materialien (S. 62) über „ein Mindestmaß an verfahrensrechtlichen Möglichkeiten“ verfügen. Zudem ist eine individuelle Prüfung schon aufgrund des Verbots der Kollektivausweisung gemäß Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK geboten. In Hinblick darauf ist im FPG normiert, dass über die Zulässigkeit der Einreise nach Befragen der betroffenen Person zu entscheiden ist (§ 41 Abs. 3 FPG). Fremden, die sich auf eine der in § 45a Abs. 1 bis 3 FPG genannten Gefahren berufen, ist vorab Gelegenheit zu geben, den Zwangsmaßnahmen entgegenstehende Gründe darzulegen (§ 45a Abs. 5 leg. cit.). Dazu ist jedoch festzuhalten, dass wohl von einem Antrag auf internationalen Schutz auszugehen sein wird, sobald sich Fremde auf eine solche Gefahr stützen.
Hinzu kommt, dass das Refoulement-Verbot jederzeit von Amts wegen zu beachten ist. Dies gilt unabhängig von der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz (siehe auch Lehnert im Verfassungsblog). Der EGMR hielt es z.B. in der Rechtssache Kebe und andere gegen Ukraine (Rn. 103 f) nicht für erforderlich, abschließend zu klären, ob ein Antrag gestellt wurde, weil näher genannte Umstände auf die Schutzsuche hingedeutet hätten. Haben Fremde aber einen solchen Antrag gestellt, können sie aufgrund des ihnen idR (zu den Ausnahmen siehe § 12a AsylG 2005) gemäß § 12 AsylG 2005 zukommenden faktischen Abschiebeschutzes bis zur Erledigung des Verfahrens über den Antrag nicht zurückgewiesen oder zurückgeschoben werden. Damit scheidet auch die Anwendung eines Rückübernahmeabkommens aus. In Betracht käme dann nur mehr – bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen – die Erlassung einer Rückkehrentscheidung oder die Anordnung zur Außerlandesbringung, etwa im Dublin-Verfahren. So sieht z.B. Art. 6 des Abkommens mit der Republik Slowenien ausdrücklich vor, dass „die Bestimmungen über die Gewährung des Asylrechtes“ durch das Abkommen nicht berührt werden. Die Präambel und Art. 14 des Übereinkommens mit der Tschechischen Republik betonen zudem die Bedeutung völkerrechtlicher Normen, die unberührt bleiben.
§§ 36 ff AsylG 2005 enthalten jedoch von § 12 leg. cit. abweichende Sonderbestimmungen (Näheres zu diesen Bestimmungen im Blogbeitrag von Julia Kienast). Sie können allerdings nur dann zur Anwendung kommen, wenn „die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit gefährdet sind“ und es aufrechte Binnengrenzkontrollen iSd § 10 Abs. 2 GrekoG gibt. Prinzipiell käme hier trotz Antragstellung eine Zurückweisung oder Zurückschiebung in Betracht (vgl. § 39 AsylG 2005). Dies setzt jedoch voraus, dass die Zulässigkeit dieser Maßnahmen geprüft wurde und ihnen Art. 2, 3 und 8 EMRK nicht entgegenstehen (vgl. § 38 Abs. 3, § 40 Abs. 2 und § 41 Abs. 1 AsylG 2005).
„Pushbacks“ trotz Asylantrags? – Probleme in der Vollzugspraxis
Die Rechtmäßigkeit einer Zurückweisung oder Zurückschiebung hängt – außer im Bereich der ebengenannten Sonderbestimmungen – somit auch von der Frage ab, ob die Betroffenen einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben. Darunter ist gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 das – auf welche Weise auch immer artikulierte – Ersuchen, sich dem Schutz Österreichs unterstellen zu dürfen, zu verstehen. Es ist daher besonders wichtig, dass Grenzschutzbeamt:innen auf Leitlinien für diese Beurteilung zurückgreifen (können) und die Angaben entsprechend dokumentieren. Diesbezüglich wurde in den Anfragebeantwortungen vom 25. März 2022 und 22. November 2021 (jeweils S. 8) von den jeweiligen Bundesministern für Inneres darauf hingewiesen, dass die Exekutivbediensteten einen Englischtest im Rahmen der Grundausbildung bestehen müssen, die Gesprächsführung mit den Betroffenen zukünftig „noch ausführlicher“ dokumentiert werde und die Leitfäden für polizeiliches Handeln im Rahmen von Zurückweisungen erweitert worden seien. Zudem gibt es einen Erlass zur Sensibilisierung im Hinblick auf Zurückweisungen.
Relevante Maßstäbe wurden auch von der Rechtsprechung vorgegeben. So hat der VwGH mit Blick auf § 12 AsylG 2005 bereits festgehalten, dass es für die vom Verwaltungsgericht zu überprüfende Rechtmäßigkeit der Zurückweisung nicht ausreicht, wenn Grenzschutzbeamt:innen im Fall von Unklarheiten bloß vertretbar davon ausgehen, dass kein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. Sie müssen sich vergewissern, ob ein solcher Antrag, der im Übrigen nach der Judikatur an keine bestimmte Form gebunden ist, gestellt wurde. Zudem sind die Angaben der Einreisewilligen so zu dokumentieren, dass eine nachprüfende Kontrolle durch das Verwaltungsgericht ermöglicht wird. Im erstgenannten Erkenntnis erwog der VwGH, die Grenzschutzbeamt:innen hätten fallbezogen anlässlich der Aussage des aus Syrien stammenden Fremden, wegen des Krieges einreisen zu wollen und „Frieden und Leben“ anzustreben, nachfragen müssen, ob er in Österreich Schutz sucht.
Auf diese Rechtsprechung nahm auch das LVwG Steiermark in seinem medial viel besprochenen Erkenntnis Bezug. Ausgehend von seiner Feststellung, der Beschwerdeführer habe während der Amtshandlung gegenüber den Sicherheitsorganen mehrmals wahrnehmbar und deutlich das Wort „Asyl“ verwendet, erklärte es die bekämpfte Zurückweisung für rechtswidrig. Ähnlich argumentierte das LVwG Steiermark in einer erst kürzlich ergangenen Entscheidung vom 16. Februar 2022. Der VwGH entschied jüngst über die Amtsrevision der LPD Steiermark gegen das erstgenannte Erkenntnis und hob dabei erneut die grundsätzliche Verpflichtung zur Befragung von Fremden und zur Dokumentation ihrer Angaben hervor. Beides wurde, so der VwGH, im vorliegenden Fall offenbar verabsäumt.
Schlussbemerkungen
Zurückweisungen und Zurückschiebungen sind zwar nicht von vornherein unzulässig, sie unterliegen aber vielfältigen Beschränkungen. Neben den jeweiligen einfachgesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen ist stets auch das Refoulement-Verbot zu beachten. Zudem besteht nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung eine Dokumentations- und Vergewisserungspflicht, ob ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, weil bejahendenfalls der faktische Abschiebeschutz greift. Schließlich bleibt insbesondere aus der Perspektive des Rechtsschutzes Raum für Diskussion und Kritik: Der betroffenen (und außerhalb Österreichs aufhältigen) Person steht lediglich die Möglichkeit offen, Maßnahmenbeschwerde zu erheben. Wurde die Rechtswidrigkeit der Maßnahme festgestellt, ist deren Eintragung im Reisedokument auf Antrag der betroffenen Person zu streichen. Immerhin: Der Rechtsprechung des VfGH zufolge darf der/die daraufhin (wieder) einreisende Fremde nicht (neuerlich) zurückgewiesen werden. Allerdings ist eine Einreise den Betroffenen nicht immer möglich, etwa wenn sie über keine Reisepässe oder Visa verfügen. Weitere Anträge, die zu mehr Rechtssicherheit für die Betroffenen führen würden, etwa auf Erteilung eines Einreisetitels zwecks Antragstellung auf internationalen Schutz, sieht das Gesetz hingegen nicht vor. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Verstöße gegen das Refoulement-Verbot irreversibel sind, erscheint es umso bedeutender, dass sämtliche der dargestellten Vorgaben von den involvierten Organen und Behörden lückenlos beachtet und Vorwürfe unabhängig und effektiv aufgeklärt werden, wie zuletzt die Menschenrechtskommissarin des Europarats im Bericht zu ihrem Besuch in Österreich betonte.