VfGH: Weiterführung der Rechtsprechung zu Syrien
30. Oktober 2025 in
Rechtsprechung
0 Kommentare
Tags: EGMR, EUAA, Non-Refoulement, Schubhaft, Syrien, UNHCR, VfGH, VwGH
30. Oktober 2025 in
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Der VfGH hat sich in der Oktober-Session mit der Situation in Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes auseinandergesetzt und seine Rechtsprechung konkretisiert. Anlassgebend waren Beschwerden gegen vollinhaltlich negative Asylentscheidungen einerseits sowie gegen die Anhaltung in Schubhaft andererseits.
Rechtsprechung zur Lage vor dem Regimewechsel
Bereits im Jahr 2024 haben sich VfGH und VwGH mit der Rückkehrsituation syrischer Staatsangehöriger in deren Herkunftsstaat auseinandergesetzt. Die Entscheidungen bezogen sich auf Damaskus und auf die Lage vor dem Regimewechsel. Beide Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts gingen davon aus, dass weder die allgemeine Sicherheitslage im Herkunftsort Damaskus noch die jeweilige individuelle Versorgungslage einer Rückkehr der beschwerdeführenden bzw. revisionswerbenden Personen entgegenstand. Der VwGH erkannte jedoch auf der Ebene der persönlichen Sicherheitslage in den mangelhaften bzw. im Widerspruch zu den Richtlinien des UNHCR stehenden Feststellungen des BVwG einen wesentlichen Begründungsmangel. Das BVwG hatte nicht dargelegt, wie es zu seiner abweichenden Beurteilung der Gefahrenlage gekommen war und mögliche individuelle gefahrenerhöhende Faktoren in der Person des Revisionswerbers nicht in den Blick genommen. Diese Begründungsmängel führten zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung durch den VwGH. Demgegenüber erkannte der VfGH in einer abweisenden Entscheidung vor dem Hintergrund der Art. 2 und 3 EMRK keine besonderen risikoerhöhenden Umstände in der Person des Beschwerdeführers, der unmittelbar vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat ein Universitätsstudium abgeschlossen, einen Reisepass ausgestellt und einen (weiteren) Aufschub des Wehrdienstes sowie eine Ausreisegenehmigung der Wehrdienstbehörde erhalten hatte. Die jeweils auf den konkreten Einzelfall Bezug nehmenden Entscheidungen von VfGH und VwGH standen insoweit in keinem unauflösbaren Spannungsverhältnis.
Rechtsprechung zur Lage nach dem Regimewechsel
In der Oktober-Session hat sich der VfGH erstmals mit der Lage in Syrien und der Rückkehrsituation syrischer Staatsangehöriger nach Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 befasst. Im stattgebenden Erkenntnis VfGH 18.9.2025, E 1520/2025 hat er festgehalten, dass sich die Auseinandersetzung mit der Sicherheitslage des – aus dem kurdisch kontrollierten Teil Syriens (Al-Hasaka) stammenden – Beschwerdeführers auf dessen Herkunftsregion zu beziehen hat. Das BVwG hatte sich begründend lediglich mit sicherheitsrelevanten Vorfällen außerhalb der konkreten Herkunftsregion befasst. Zudem hat der VfGH abermals die Notwendigkeit der Heranziehung hinreichend aktueller Länderberichte hervorgehoben und betont, dass den Berichten des UNHCR und der EUAA bei der Beurteilung von Anträgen auf internationalen Schutz besondere Beachtung zu schenken ist. Diese Indizwirkung gilt nach Ansicht des VfGH in besonderer Weise, wenn es wie in Syrien zu gravierenden Änderungen der Machtverhältnisse im Herkunftsstaat gekommen ist und diese Änderungen im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation noch nicht (vollständig) abgebildet werden. Letztlich weist der VfGH darauf hin, dass das BVwG im fortgesetzten Verfahren einerseits die individuelle Versorgungslage des Beschwerdeführers und andererseits die Sicherheitslage in der konkreten Herkunftsregion unter Berücksichtigung der sicheren Erreichbarkeit zu prüfen hat.
Mit dem ablehnenden Beschluss VfGH 18.9.2025, E 1539/2025 hat der VfGH klargestellt, dass dem BVwG aus verfassungsrechtlicher Perspektive dann nicht entgegengetreten werden kann, wenn es die Rückkehrentscheidung gegenüber einem syrischen Staatsangehörigen, der im Beschwerdefall ebenfalls aus Al-Hasaka stammte, im Rahmen einer vertretbaren Einzelfallprüfung bestätigt, die auf die allgemeine und die persönliche Sicherheitslage in der Herkunftsregion sowie die individuelle Versorgungslage Bezug nimmt. Dieser einzelfallorientierte Zugang entspricht der seit 2024 zu Afghanistan ergehenden Rechtsprechung (vgl. weiterführend hier).
Auch im stattgebenden Erkenntnis VfGH 7.10.2025, E 2503/2025 hat der VfGH in dreifacher Hinsicht eine im Ergebnis willkürliche Anwendung von Verfahrensvorschriften erblickt: Der VfGH rügt abermals die mangelnde Auseinandersetzung mit der allgemeinen Sicherheitslage, der individuellen Versorgungslage sowie der sicheren Erreichbarkeit der Herkunftsregion. Das BVwG war entgegen seinen eigenen Feststellungen und ohne nähere Begründung – insb. ohne Bedachtnahme auf die Berichte von UNHCR und EUAA – von einer stabilen Sicherheitslage im Herkunftsort Aleppo ausgegangen. Zudem war das BVwG nach Ansicht des VfGH den Anforderungen an die Prüfung der Versorgungslage in Syrien nicht gerecht geworden (mit Verweis auf VfGH 2.10.2024, E 3587/2023). Das BVwG hatte sich auch nicht hinreichend mit der wirtschaftlichen Situation befasst und war nicht auf das Vorbringen des Beschwerdeführers zu Versorgungsdefiziten bzw. zur flächendeckenden Zerstörung der Infrastruktur eingegangen. Aus der Entscheidung lässt sich ableiten, dass der VfGH in der bloßen Negativfeststellung, wonach nach Ansicht des BVwG nichts hervorgekommen sei, das auf eine existenz- bzw. lebensbedrohlichen Situation im Rückkehrfall schließen lasse, keine tragfähige Begründung erblickt werden kann. Letztlich hatte das BVwG keine Erwägungen dazu getroffen, ob der Beschwerdeführer bei der Einreise nach Syrien bzw. der Weiterreise in die Herkunftsregion eine Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK zu gewärtigen hätte.
Mit diesen Entscheidungen hat der VfGH Leitlinien für die verwaltungsgerichtliche Einzelfallprüfung von Anträgen auf internationalen Schutz syrischer Staatsangehöriger vorgegeben.
Anhaltung in Schubhaft
Aus Anlass von drei gegen die (Fortsetzung der) Anhaltung in Schubhaft gerichteten Beschwerden ist der VfGH der Frage nachgegangen, ob jede Behörde bzw. jedes Verwaltungsgericht zur selbstständigen (neuerlichen) Überprüfung der Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes verpflichtet ist. Beim Beschwerdeführer handelte es sich um jenen syrischen Staatsangehörigen, dem bereits vor Anrufung des VfGH – und damit vor Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges – eine einstweilige Maßnahme (interim measure) durch den EGMR gemäß Art. 39 der Verfahrensordnung zuerkannt worden war.
Wenngleich die Frage der Zulässigkeit der Abschiebung grundsätzlich nicht Gegenstand des Schubhaftverfahrens ist, hat der VfGH schon in der Vergangenheit anerkannt, dass bei der der Frage der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft auch nach Art. 2 und 3 EMRK relevante Gefahren zu berücksichtigen sind. Unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung des VwGH hat der VfGH festgehalten, dass die Verhängung der Schubhaft nur dann als verhältnismäßig angesehen werden kann, wenn mit der zeitnahen Realisierbarkeit der Abschiebung zu rechnen ist. Stehen faktische oder rechtliche Gründe einer Abschiebung dauerhaft oder auf unbestimmte Zeit entgegen, darf die Schubhaft nicht länger aufrechterhalten werden (vgl. zu Afghanistan VfSlg. 20.482/2021 mwN).
In den ablehnenden Beschlüssen zu VfGH 18.9.2025 E 2556/2025 bzw. E 2795/2025 und E 2951/2025 hat der VfGH neuerlich anerkannt, dass dazu das real risk einer Verletzung in den Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK zählen kann (wenngleich er die Gefahr im konkreten Fall verneint hat). Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Prüfung der Zulässigkeit der Abschiebung, die sowohl eine Auseinandersetzung mit der Sicherheits- und Versorgungslage in Syrien als auch mit der individuellen Situation des Beschwerdeführers einschließlich der Erreichbarkeit seiner Herkunftsregion zu umfassen hat, verweist der VfGH auf die oben angeführte Entscheidung zu E 1520/2025 (Rz 20).
Im Beschluss zu E 2795/2025 hält er (unter Verweis auf VfSlg. 20.573/2022 und die ständige Rechtsprechung des VwGH) zudem fest, dass auch ein nach § 76 Abs. 6 FPG unter Verzögerungsabsicht gestellter Antrag auf internationalen Schutz einer Grobprüfung in Bezug auf die asylrechtliche Verfolgungsbehauptung zu unterziehen ist.
Im Lichte der zeitnahen Entscheidung des VfGH hat der EGMR die einstweilige Maßnahme in der Folge aufgehoben.
Bearbeiter: Dr. Johannes Schön