Wir sind im Jahr 1939:
Es ist der 13. Mai, 20.30 Uhr als das Schiff „St. Louis“ vom Hamburger Hafen ablegt. 937 Personen befinden sich an Bord, die meisten sind jüdischen Glaubens, auf der Flucht vom nationalsozialistischen Regime in Deutschland. Angesteuert wird Kuba. Als die St. Louis am 27. Mai schließlich am Hafen von Havanna andockt, werden die Passagier:innen jedoch gehindert an Land zu gehen. Der Grund: Die Visabestimmungen wurden einige Tage vor Abreise der St. Louis geändert – eine Einreise mit einem Touristenvisum ist somit nicht mehr möglich. Lediglich 29 Personen, die über gültige Visa verfügen, dürfen das kubanische Festland betreten. Inzwischen herrscht eine zunehmend angespannte Stimmung an Bord der St. Louis. Mit einer ungewissen Zukunft vor sich beherrschen Verzweiflung und Angst den Alltag der Passagier:innen.
Ein erneuter Versuch wird gestartet, nicht nach Deutschland zurückkehren zu müssen. Ziel ist diesmal die Küste Floridas. Doch in den USA herrscht ein strenges Quotensystem – lediglich 25.957 deutsche Staatsbürger:innen dürfen jährlich einreisen. Ausnahmen für verfolgte Juden und Jüdinnen gibt es nicht. Auch hier wird somit die Einreise verwehrt.
Was folgt ist eine Irrfahrt, zwischen Kuba und Florida, New York und der Dominikanischen Republik. Mehr als vier Wochen ohne klaren Zielhafen vergehen, kein Land öffnet die Grenzen. England, Belgien, die Niederlande und Frankreich einigen sich schließlich, die Geflüchteten aufzunehmen, um diesen eine Rückkehr nach Deutschland zu ersparen. Am 17. Juni 1939 legt die St. Louis schließlich am Hafen von Antwerpen an.
Belgien, die Niederlande und Frankreich wurden in den darauffolgenden Jahren vom NS-Regime besetzt. Von den über 900 Personen, die diese Irrfahrt auf der St. Louis begonnen hatten, überlebten nicht mehr als 250 Personen den Krieg.
Ein Rückblick in das Jahr 1938:
Es ist der 6. Juli, vier Monate nach dem Anschluss Österreichs an das „Dritte Reich“. Vertreter:innen aus 32 Staaten versammeln sich in Évian-les-Bains, einem Badeort am Genfer See, um über das Schicksal der Juden und Jüdinnen im zweiten Weltkrieg zu entscheiden. Keiner der teilnehmenden Staaten erklärte sich jedoch dazu bereit mehr Flüchtlinge aufzunehmen – teilweise wurden Einwanderungsbedingungen kurz vor der Konferenz gar verschärft. Auch die Passagier:innen der St. Louis sind diesen restriktiven Einwanderungsbestimmungen zum Opfer gefallen.
13 Jahre später, im Jahr 1951:
Vertreter:innen von insgesamt 26 Staaten beschließen auf der Bevollmächtigtenkonferenz die Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Von nun an sollen Szenen wie die der St. Louis nicht mehr möglich sein. Zu prägend sind die Bilder der Massenvernichtung durch das nationalsozialistische Regime.
70 Jahre später, im Jahr 2021:
Über 80 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht. Fast täglich erreichen uns Nachrichten von Push-Backs und gekenterten Flüchtlingsbooten. 2021 starben allein in der ersten Jahreshälfte mindestens 1.146 Personen beim Versuch über das Mittelmeer auf das europäische Festland zu gelangen. Die Zahlen zeigen, wie aktuell und bedeutsam die Fragen rund um Flucht und Asyl sind. Dabei stellt die GFK nach wie vor das wichtigste Werk im internationalen Flüchtlingsschutz dar, insbesondere durch die universell anwendbare Flüchtlingsdefinition und das non-refoulment Prinzip.
Gleichzeitig lassen die Zahlen auch Zweifel aufkommen, inwieweit die GFK in der Lage ist, zur Bewältigung dieser Herausforderungen beizutragen. Beispielsweise ist die Frage nach Verantwortung selbst innerhalb der Europäischen Union (EU) und trotz weitgehender Harmonisierung durch das europäische Asylrecht nicht immer abschließend geklärt. Gerade an den EU-Außengrenzen führt dies immer wieder zu Diskussionen. Teilweise sind auch heute noch die Zuständigkeiten für auf Flüchtlingsbooten ankommende Personen nicht immer eindeutig und es müssen sich zunächst Aufnahmestaaten finden. Neue Herausforderungen bahnen sich zudem durch den Klimawandel an. Weiters ist der Anspruch an die Konvention in vielen rechtlichen Belangen gestiegen, wie etwa hinsichtlich des Schutzes vor geschlechtsspezifischer Verfolgung oder von Kindern auf der Flucht. Und nicht zuletzt der Umgang mit Schutzsuchenden, sei es hinsichtlich ihrer persönlichen Freiheit oder deren Anspruch auf soziale Leistungen, ist immer wieder von zentraler Bedeutung für die Betroffenen, aber auch für Staaten, Gerichte und Rechtsanwender:innen.
In vielen dieser Fragestellungen bietet die GFK durch ihre offenen Formulierungen Chancen für einen entsprechend weitreichenden Schutz durch Auslegung; mangels verbindlicher eindeutiger Definition bergen eben jene offenen Formulierungen aber ebenso Risiken für Rechtsschutzlücken. Schon Knud Larsen stellte bei den Verhandlungen zur GFK fest, dass die GFK nicht in der Lage sei, alle Bedürfnisse zu befriedigen, aber einen „satisfactory legal status“ geschaffen hat, „which would be of material assistance in promoting international collaboration in the refugee field.” Diesem Gedanken folgend, kamen viele Autor:innen des Sammelbandes „70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention – Altbewährt?“ auf den Spuren dieser und anderer Fragen zum Schluss, dass die GFK Grundlage für ein nicht wegzudenkendes Mindestmaß an Schutz für Flüchtlinge bietet. Vielfach ist dieser Schutzstandard ergänzt worden, etwa durch UNHCR-Richtlinien, Menschenrechte wie sie in der EMRK verankert sind und das Unionsrecht. Ein besonderes Bewusstsein für eben jenes Mindestmaß vermittelt ein Blick in Staaten, die der Konvention nicht beigetreten sind: beispielsweise sind nur wenige arabische Staaten Vertragspartei. Zum Teil mangelt es dadurch an spezifischen Asyl- und Flüchtlingsgesetzen. Stattdessen wird auf allgemeinere Einwanderungs- und Ausländergesetze zurückgegriffen, die häufig nicht in der Lage sind, die spezifische Situation von Flüchtlingen zu berücksichtigen.
Viele dieser Gedanken wurden im Sammelband „70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention – Altbewährt?“ ausführlich analysiert. Einigkeit besteht darin, dass die GFK nach wie vor das wichtigste internationale Schutzinstrument für Flüchtlinge darstellt. Sie ist wohl aber nicht in der Lage, alle aktuellen Herausforderungen alleine zu bewältigen.
Das Schicksal der St. Louis und ihrer Passagiere wird auch ganz wunderbar im Theaterstück „Die Reise der Verlorenen“ von Daniel Kehlmann erzählt. Das Stück, das im Theater in der Josefstadt gespielt wurde, ist auch in der sogenannten Dilogie „Auf der Flucht“ aufgezeichnet worden.
Auch sehr empfehlenswert dazu ist der Film „Die Ungewollten – Die Irrfahrt der St. Louis“. Er läuft am 27.01.2022 um 22:55 auf 3sat und ist danach in der Mediathek verfügbar.
Danke für die Info!