Der VfGH hat sich in den Erkenntnissen zu E 291/2022 und zu E 309/2022, jeweils vom 1. Juli 2022, mit der Auslegung des Asylgrundes der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK und Art. 10 Abs. 1 lit. d Status-Richtlinie auseinandergesetzt. Die Fälle betreffen Frauen aus Nigeria, die Opfer von Menschenhandel geworden waren. Der VfGH hat den Beschwerden der Frauen jeweils mit der Begründung stattgegeben, dass den angefochtenen BVwG-Erkenntnissen eine nachvollziehbare Begründung fehle, warum die jeweilige Beschwerdeführerin nicht Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe sei.
Unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 10 Abs. 1 lit. d Status-Richtlinie, auf die sich auch der VwGH beziehe (s. die Zitate in Rz 17 des VfGH-Erkenntnisses), hält der VfGH zunächst fest, dass für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein müssen: Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, darauf zu verzichten. Zum anderen muss diese Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Bei der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe müssen außerdem geschlechtsbezogene Aspekte angemessen berücksichtigt werden.
Das BVwG hatte in beiden Fällen geprüft, ob die Beschwerdeführerinnen der Gruppe „nach Nigeria zurückkehrende[r] Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind und die sich hiervon befreit haben“ angehörten. Es hatte dabei nicht in Frage gestellt, dass nigerianische Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind, durch ihre sexuelle Ausbeutung einen gemeinsamen Hintergrund teilen, der nicht verändert werden kann, und dass damit das erste Kriterium für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ erfüllt ist. Hinsichtlich des Kriteriums der „deutlich abgegrenzten Identität“ hatte das BVwG festgestellt, dass nigerianische Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden seien und ohne Vermögen aus Europa zurückkehren würden, einer sozialen Stigmatisierung unterlägen und dass die Beschwerdeführerinnen eben jener Gruppe der Opfer von Menschenhandel angehörten, die bei einer Rückkehr mit Stigmatisierung zu rechnen hat. Gerade hierin manifestiert sich aber – so der VfGH – die „deutlich abgegrenzte Identität“ dieser Gruppe, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft offensichtlich als andersartig betrachtet wird. Die – trotz der dargestellten Feststellungen gegebene – Begründung des BVwG, dass nicht jede nach Nigeria zurückkehrende Frau, die Opfer von Menschenhandel wurde, identisch behandelt werde, sondern es auf die konkreten Umstände ankomme, weshalb eine „deutlich abgegrenzte Identität“ fehle, war vor diesem Hintergrund nicht tragfähig.
Der Bezugnahme des BVwG auf den Beschluss des VwGH vom 14. August 2020, Ro 2020/14/0002, hielt der VfGH schließlich entgegen, dass der VwGH darin nicht in Zweifel gezogen habe, dass eine „abgegrenzte Identität“ bei gesellschaftlicher Stigmatisierung von Opfern des Menschenhandels vorliegen kann. Auch der VfGH hat in vergleichbaren Fällen, in denen das BVwG jeweils von der Asylrelevanz der Eigenschaft als Opfer von Menschenhandel ausgegangen ist, das Vorliegen einer sozialen Gruppe nicht in Frage gestellt (s. dazu die Zitate in Rz 19 der Erkenntnisse).
Bearbeitet von: Dr. Martina Lais