Mit Urteil vom 1. August 2022 entschied der EuGH in den verbundenen Rechtssachen C-273/20 und C-355/20 über ein Vorabentscheidungsersuchen des deutschen Bundesverwaltungsgerichts in einem Rechtsstreit zwischen der Bundesrepublik Deutschland einerseits und den syrischen Staatsangehörigen SW (C-273/20) sowie BL und BC (C-355/20) andererseits über deren Anträge auf Familienzusammenführung mit ihrem jeweiligen, in Deutschland als Flüchtling anerkannten – und im Laufe des Familienzusammenführungsverfahrens volljährig gewordenen – Sohn.
Mit Blick auf die erste Vorlagefrage, ob bei der Familienzusammenführung von Eltern zu ihrem als Flüchtling anerkannten Kind die Minderjährigkeit dieses Flüchtlings auch noch zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Familienzusammenführungsantrag eine „Bedingung“ iSd Richtline 2003/86/EG („Familienzusammenführungsrichtlinie“) darstellt, verweist der EuGH zunächst auf sein Urteil vom 12. April 2018, A und S (C-550/16) und wiederholt in weiterer Folge seine Rechtsprechung, dass ein Abstellen auf den Entscheidungszeitpunkt der zuständigen Behörde über den Familienzusammenführungsantrag weder mit den Zielen der Familienzusammenführungsrichtlinie, noch mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechte – konkret mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens sowie der Verpflichtung zur vorrangingen Berücksichtigung des Kindeswohls- in Einklang stehen würde. Außerdem würde eine solche Auslegung den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit widersprechen, „da sie dazu führen würde, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung hauptsächlich von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen (…).“ Zudem könnte eine solche Auslegung zu großen Unterschieden bei der Bearbeitung von Familienzusammenführungsanträgen zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats führen.
Vor diesem Hintergrund kommt der EuGH zum Schluss, dass bei der Familienzusammenführung von Eltern zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft der Entscheidungszeitpunkt über den Familienzusammenführungsantrag nicht maßgebend ist. Die Minderjährigkeit des Kindes auch noch zum Entscheidungszeitpunkt stellt daher keine „Bedingung“ dar, bei deren Nichterfüllung die Mitgliedstaaten einen solchen Antrag ablehnen können. Zudem muss den Eltern eines Flüchtlings, deren Familienzusammenführungsantrag stattgegeben wurde, ein Aufenthaltstitel erteilt werden, „der mindestens ein Jahr lang gültig ist, ohne dass der Eintritt der Volljährigkeit des als Flüchtling anerkannten Kindes dazu führen darf, dass die Dauer eines solchen Aufenthaltstitels verkürzt wird.“
Zur zweiten Vorlagefrage betreffend das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen im Sinne der Familienzusammenführungsrichtlinie, wenn das Kind vor einer Entscheidung im Familienzusammenführungsverfahren volljährig wird, stellt der EuGH fest, dass die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades nicht genügt. Ein Zusammenleben im selben Haushalt oder unter einem Dach ist jedoch nicht erforderlich; genauso wenig kann verlangt werden, dass sich Eltern und zusammenführendes Kind gegenseitig finanziell unterstützen. „Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen.“
Siehe auch EuGH-Urteil vom 1. August 2022, Rechtssache C-279/20 sowie Blog-Post „EuGH: Familienzusammenführung auch möglich, wenn antragstellendes Kind vor Flüchtlingsanerkennung des Elternteils volljährig wurde“
Bearbeitet von: Mag.a Sarah Mirzaei