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EuGH: Familienzusammenführung auch möglich, wenn antragstellendes Kind vor Flüchtlingsanerkennung des Elternteils volljährig wurde


Die Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung eines Kindes mit seinem Vater, das volljährig geworden ist, bevor sein Vater als Flüchtling anerkannt wurde und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung, verstößt gegen das Unionsrecht.

Mit Urteil vom 1. August 2022, Rechtssache C‑279/20, entschied der EuGH über ein Vorabentscheidungsersuchen des deutschen Bundesverwaltungsgerichts in einem Rechtsstreit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der syrischen Staatsangehörigen XC wegen der Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung.

XC, die am 1. Jänner 2017 volljährig geworden war, stellte am 10. August 2017 beim deutschen Generalkonsulat in Istanbul einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihrem in Deutschland wohnhaften Vater. Ihre Mutter ist verstorben, ihr Vater reiste 2015 nach Deutschland, wo er im April 2016 (als XC noch minderjährig war) einen Asylantrag stellte und ihm im Juli 2017 (als XC bereits volljährig war) die Flüchtlingseigenschaft anerkannt wurde.

Das Generalkonsulat lehnte den Antrag von XC ab und stützte sich dabei im Wesentlichen auf ihre Volljährigkeit. Demgegenüber gab das Verwaltungsgericht Berlin der Klage von XC statt und führte unter Verweis auf das EuGH-Urteil vom 12. April 2018, A und S (C-550/16) begründend aus, dass für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft von XC der Zeitpunkt des Asylantrags durch ihren Vater ausschlaggebend sei. Gegen dieses Urteil legte die Bundesrepublik Deutschland Revision an das Bundesverwaltungsgericht ein, welches in weiterer Folge das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH stellte.

In seinem Urteil beschäftigt sich der EuGH einerseits mit der Frage des maßgebenden Zeitpunkts für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 („Familienzusammenführungsrichtlinie“) und andererseits mit der Auslegung des Bestehens von „tatsächlichen familiären Bindungen“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86.

Mit Blick auf den Zeitpunkt zur Beurteilung der Minderjährigkeit, führt der EuGH aus, dass ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde über den Asylantrag des betreffenden Elternteils entscheidet, oder auf den späteren Zeitpunkt, zu dem das betroffene Kind seinen Antrag auf Familienzusammenführung stellt, nicht mit den Zielsetzungen dieser Richtlinie und den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten in Einklang stehen würde (Rz 48, 52). Die zuständigen Behörden und Gerichte könnten sonst nämlich in einer Weise handeln, die das Recht auf Familienleben gefährden würde (Rz 49). Außerdem würde eine solche Auslegung den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit widersprechen (Rz 50) und könnte diese zu großen Unterschieden bei der Bearbeitung von Familienzusammenführungsanträgen zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats führen (Rz 51).

In diesem Zusammenhang verweist der EuGH auf das Urteil vom 12. April 2018, A und S (C-550/16) (Rz 52) und kommt schließlich zum Schluss, „dass der maßgebende Zeitpunkt für die Feststellung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden ein minderjähriges Kind (…) ist, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, der Zeitpunkt ist, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag im Hinblick auf die Anerkennung als Flüchtling gestellt hat.“ Ein solcher Antrag auf Familienzusammenführung muss jedoch „innerhalb einer angemessenen Frist erfolgen (…), d. h. innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling.“ (Rz 53, 54).

Hinsichtlich des Bestehens von „tatsächlichen familiären Bindungen“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 stellt der EuGH weiter fest, dass „das bloße rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis nicht“ genügt (Rz 63). Für den Anspruch auf Familienzusammenführung ist es „jedoch nicht erforderlich, dass der zusammenführende Elternteil und das betreffende Kind im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen.“ „Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. Darüber hinaus kann auch nicht verlangt werden, dass sich der zusammenführende Elternteil und sein Kind gegenseitig finanziell unterstützen.“ (Rz 69).

Siehe auch Pressemitteilung

Bearbeitet von: Mag.a Sarah Mirzaei


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