Recht und Wissenschaft in Österreich

EuGH: Medizinische Behandlung zur Schmerzlinderung bei schwerer Erkrankung muss im Herkunftsstaat verfügbar sein


Eine Rückkehrentscheidung kann im Hinblick auf Art. 4 GRC unzulässig sein, wenn ein Drittstaatsangehöriger an einer schweren Krankheit leidet und im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre.

 

 

 

Mit Urteil vom 22. November 2022, C-69/21, X/Staatssecretaris von Justitie en Veiligheid, entschied der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren auf Grund einer Vorlage des Bezirksgerichts Den Haag, Niederlande (Rechtbank Den Haag), in einem Verfahren über die Rechtmäßigkeit eines vom Staatssekretär für Justiz und Sicherheit eingeleiteten Rückkehrverfahrens.

X, ein an Blutkrebs erkrankter russischer Staatsangehöriger und in den Niederlanden illegal aufhältig, wird in den Niederlanden unter anderem mit medizinischem Cannabis zur Schmerzbekämpfung behandelt; eine Behandlung, die in seinem Herkunftsstaat nicht erlaubt ist. Zwei Asylanträge von X wurden rechtskräftig zurück- bzw. abgewiesen; in der Folge wurde kein Aufenthaltsrecht nach Art. 8 EMRK erteilt, der Antrag, die Abschiebung aufzuschieben, abgewiesen und eine Rückkehrentscheidung erlassen. Das gegen die Rückkehrentscheidung mit Rechtsbehelf angerufene Bezirksgericht legte dem EuGH im Hinblick auf die Prüfung einer allfälligen Unzulässigkeit der Abschiebung aus medizinischen Gründen mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor und stützte sich dabei auf Art. 1 GRC (Menschenwürde), Art. 4 GRC (keine unmenschliche Strafe oder Behandlung), Art. 7 GRC (Privat- und Familienleben) und Art. 19 GRC (Schutz bei Abschiebung) iVm der Rückführungs-Richtlinie 2008/115/EG.

Bei den Vorlagefragen 2 und 3 ist zu beachten, dass – wie sich aus dem Urteil ergibt – in den Niederlanden eine spezifische rechtliche Konstellation besteht: Die niederländische Rechtslage („Ausländerrundverfügung“) sieht eine Prüfung der Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK aus medizinischen Gründen bei der Beurteilung der Reisefähigkeit vor. Nach der Rechtsprechung des Raad van State sind nur die medizinischen Folgen zu berücksichtigen, die innerhalb von drei Monaten nach Abbruch der Behandlung eintreten.

Der EuGH erkennt zunächst, dass nach Art. 5 RückführungsRL iVm Art. 1, 4 und 19 Abs. 2 Grundrechtecharta eine Rückkehrentscheidung oder aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht erlassen werden darf, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Drittstaatsangehörige, der an einer schweren Krankheit leidet, im Fall der Rückkehr der tatsächlichen Gefahr einer erheblichen, unumkehrbaren und raschen Zunahme seiner Schmerzen ausgesetzt wäre, weil in diesem Staat die einzige wirksame schmerzlindernde Behandlung verboten ist [s. Rn. 61 bis 71 – insb. die Kriterien in Rn. 71 – mit Verweis auf EGMR 13.12.2016 (GK), Appl. 41.738/10, Paposhvili/Belgien, sowie EGMR 7.12.2021 (GK), Appl. 57.467/15, Savran/Denmark]. Die Berücksichtigung des Gesundheitszustandes darf nicht nur bei der Prüfung der Reisefähigkeit erfolgen. Allerdings setzt nicht jede Gefahr einer Zunahme von Schmerzen den Drittstaatsangehörigen einer gegen Art. 4 GRC verstoßenden Behandlung aus [s. Rn. 70].

Insbesondere im Hinblick auf das Recht auf ein Privat- und Familienleben trifft der EuGH weiters folgende Feststellungen:

Art. 5 und 9 der RückführungsRL iVm Art. 1, 4 und 7 GRC verpflichten den Mitgliedstaat nicht dazu, dem Drittstaatsangehörigen aufgrund dessen, dass gegen diesen aufgrund der schweren Erkrankung eine Rückkehrentscheidung oder aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht erlassen werden kann, einen Aufenthaltstitel zu erteilen [s. Rn. 84 f. unter Verweis auf den Zweck der RückführungsRL].

Medizinische Behandlungen, die einem Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zuteilwerden, sind Teil von dessen Privatleben iSd Art. 7 GRC; insofern sind der Gesundheitszustand des Drittstaatsangehörigen und die Behandlung der Krankheit im Hoheitsgebiet bei der Prüfung, ob das Recht auf Achtung des Privatlebens einer Rückkehrentscheidung oder aufenthaltsbeendenden Maßnahme entgegensteht, zu berücksichtigen.

Die Rückkehrentscheidung oder aufenthaltsbeendende Maßnahme verstößt aber nicht schon deshalb gegen das Recht auf Privatleben, weil der Drittstaatsangehörige im Fall seiner Rückkehr der Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustands ausgesetzt wäre, sofern diese Gefahr nicht die nach Art. 4 der Charta erforderliche Erheblichkeitsschwelle erreicht [siehe Rn. 65 zur Gleichsetzung der Erheblichkeitsschwelle mit jener des Art. 3 EMRK].

Bearbeitet von: Dr. Caroline Lechner-Hartlieb


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Kommentare

One thought on "EuGH: Medizinische Behandlung zur Schmerzlinderung bei schwerer Erkrankung muss im Herkunftsstaat verfügbar sein"

  1. Mag. Georg Richter-Trummer sagt:

    In der besprochenen Entscheidung gibt der EuGH Hinweise zur Auslegung der vom EGMR im Urteil Paposhvili entwickelten Kriterien zu Abschiebehindernissen in medical cases.

    Nach dem EGMR liegt in medical cases u.a. dann eine Art. 3 EMRK Verletzung vor, wenn eine Gesundheitsverschlechterung eintritt, die rasch, erheblich und unumkehrbar und mit starken Schmerzen verbunden ist: „… a serious, rapid and irreversible decline in his or her state of health resulting in intense suffering…“ (Paposhvili Rn. 183).

    Indem der EuGH nun das Erfordernis der Gesundheitsverschlechterung (decline in his or her state of health) entfallen lässt, scheint eine Abweichung zur EGMR Rspr. zugunsten der schwerkranken Person vorzuliegen.

    Der EuGH begründet dies damit, dass die Zunahme der mit einer Krankheit verbundenen Schmerzen selbst zu einer Verschlechterung des physischen oder psychischen Gesundheitszustands der betroffenen Person führen kann (Rn. 69).

    Erhebliche und unumkehrbare (serious, irreversible) Schmerzen liegen nach der vorliegenden Entscheidung allerdings nur bei einer Schmerzintensität vor, die schwere und unumkehrbare psychische Störungen verursachen würde oder sogar zum Selbstmord veranlassen könnte, sodass ein Verstoß gegen die Menschenwürde vorliegt (Rn. 71).

    In Bezug auf die rasche (rapid) Zunahme der Schmerzen betont der EuGH, dass diese Voraussetzung nicht zu eng ausgelegt werden darf. So kann es eine gewisse Zeit dauern, bis die Zunahme erheblich und unumkehrbar wird. Eine starre Frist von drei Monaten für den Eintritt der erforderlichen Schmerzintensität, würde es den nationalen Behörden jedenfalls verwehren, die Raschheit und den Grad der Intensität der Zunahme der Schmerzen – nach Maßgabe der Krankheit des Drittstaatsangehörigen – vergleichend zu prüfen (Rz. 72-74).

    Im Ergebnis scheint die erforderliche Schwelle für eine Art 4 GRC-Verletzung in medical cases – auch ohne das Erfordernis einer Gesundheitsverschlechterung – weiterhin hoch zu sein.

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