Recht und Wissenschaft in Österreich

Der Mythos vom „anpassungsfähigen Alter“

5. Januar 2023 in Beiträge
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Tags: adaptable age, anpassungsfähiges Alter, Familie, Kinder, Kindeswohl, minderjährig, Rückkehrentscheidung

Dr.in Lioba Kasper

Dr.in Lioba Kasper war bis Juni 2022 als angestellte Rechtsanwältin in einer auf öffentliches Recht spezialisierten Kanzlei tätig. In ihren Vortrags- und Lehrtätigkeiten sowie Fachpublikationen liegt ihr Schwerpunkt auf menschenrechtlichen Themenstellungen. Zudem ist sie Mitherausgeberin des Jahrbuchs Asyl- und Fremdenrecht.


Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie zeigt in einer aktuellen Stellungnahme auf: Die Annahme einer allgemein definierten Altersperiode, in welchen Kindern die Rückkehr in den Herkunftsstaat zumutbar sei, ist „nicht durch empirische Evidenz gestützt“ und damit zurückzuweisen.

Der Rahmen

Der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme (wie einer Rückkehrentscheidung) hat stets eine Prüfung der Zulässigkeit derselben am Maßstab des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Artikel 8 EMRK voranzugehen. Sofern Kinder direkt oder indirekt betroffen sind, umfasst diese Prüfung auch eine Beurteilung der Auswirkungen auf deren Kindeswohl. Die in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entwickelten Kriterien fanden – abseits des Kindeswohls – ihren Niederschlag in § 9 Abs 2 BFA-VG. Die Pflicht, das Kindeswohl als vorrangige Erwägung bei der Entscheidungsfindung miteinzubeziehen, ergibt sich zudem unmittelbar aus Artikel 1 BVG Kinderrechte und aus Artikel 24 Abs 2 Grundrechtecharta.

Noch vor der erstmaligen expliziten Erwähnung des Kindeswohls bei Ausweisungsentscheidungen im Jahr 2006 (Rodrigues Da Silva und Hoogkamer vs. Niederlande) fanden kinderspezifische Erwägungen bereits unsystematisch Eingang in die Rechtsprechung des EGMR. Dabei hob der Gerichtshof mehrere Aspekte hervor, welche bei der Beurteilung des Kindeswohls beachtlich seien: ihr Alter, ihre Bindungen sowohl zum Aufnahme- als auch zum Herkunftsstaat und ihre tatsächlichen familiären Bindungen. An diesen Erwägungen orientiert sich auch die Rechtsprechung in Österreich.

„Adaptable age“ in der Rechtsprechung des EGMR

Der mit diesem Beitrag kritisch beleuchtete erste Aspekt, nämlich das Alter, verlangt im Gegensatz zu den weiteren Erwägungen keine Exploration der individuellen Umstände des Kindes, sondern wird als allgemeiner Grundsatz festgeschrieben, dass Kinder bis zu einem bestimmten Alter die Eingliederung in eine andere Kultur und Gesellschaft ohne übermäßige Schwierigkeiten bewältigen könnten.

Erstmalig findet sich diese Annahme 1999 in Jerry Olajide Sarumi vs. Großbritannien und kann damit wohl als Ursprung dieses Rechtsgrundsatzes bezeichnet werden:

„Furthermore, the children born of the relationship are of a young and adaptable age and it can be reasonably considered that they can make the transition to Nigerian culture and society without undue hardship.“

Weitere Ausführungen zur Untermauerung der Annahme, die in Großbritannien geborenen Kinder im Alter von 8 und 10 Jahren seien „anpassungsfähig“, finden sich in der Entscheidung nicht.

In nachfolgenden Entscheidungen (für Viele: Darren Omoregie ua vs. Norwegen) finden sich zum sogenannten „adaptable age“ überwiegend Verweise auf bereits ergangene Rechtsprechung, eine (wissenschaftliche) Quelle oder auch sonstige Begründung ist jedoch keinem der Judikate zu entnehmen. Spezifische Altersgrenzen, ab wann ein Kind (nicht mehr) als „anpassungsfähig“ gelte, sind den Entscheidungen im Übrigen ebenso wenig zu entnehmen.

Die Übernahme eines Prinzips

In der Judikatur des Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) wird nur in einem Urteil aus dem Jahr 2006 auf die Annahme eines allgemein gültigen „anpassungsfähigen Alters“ Bezug genommen und zwar betreffend einer Nichtigkeitsklage des Europäischen Parlaments gegen den Rat der Europäischen Union zur Auslegung des Rechts minderjähriger Kinder von Drittstaatsangehörigen auf Familienzusammenführung (C-540/03). Der Rechtssache lag die Frage zugrunde, ob die Vorgabe zusätzlicher Integrationskriterien für die Familienzusammenführung von Kindern, die das 12. Lebensjahr erreicht hätten, mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens nach Artikel 8 EMRK und dem Verbot der Diskriminierung wegen des Alters gemäß Artikel 14 EMRK vereinbar wäre. Die Klage wurde – ohne weitere Begründungen – mit Verweis auf die Judikatur des EGMR zur Zulässigkeit eines Eingriffs in Artikel 8 EMRK bei Vorliegen eines „anpassungsfähigen Alters“ abgewiesen.

In einem aktuelleren Urteil vom 14. Januar 2021 (C-441/19) hielt der EuGH jedoch fest, dass „ein Mitgliedstaat bei unbegleiteten Minderjährigen nicht nach dem alleinigen Kriterium des Alters unterscheiden darf, wenn er prüft, ob im Rückführungsstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden ist“ (Rz 68). Obwohl die Schlüsse nur bedingt auf die Annahme eines „anpassungsfähigen Alters“ bei der Frage der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung übertragbar sind, zeigt es doch klar, dass der EuGH altersbezogenen Unterscheidungen bei Minderjährigen gegenüber kritisch eingestellt ist und einzelfallbezogene Beurteilungen für geboten erachtet.

Der Verwaltungsgerichtshof nahm erstmals am 25.3.2010 (2009/21/0216) zur Begründung der Zulässigkeit der Verfügung einer Ausweisungsentscheidung Bezug auf die hohe „Anpassungsfähigkeit“ des im Volksschulalter befindlichen Kindes. Gleichzeitig mit der Hervorhebung des Kindeswohlprinzips bei Rückkehrentscheidungen nahm auch die Annahme eines spezifischen „anpassungsfähigen Alters“ an Relevanz zu: Neben weiteren in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten relevanten Faktoren käme „insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter […] befinden“ (VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 mwN), maßgebliche Bedeutung zu. Eine „grundsätzliche Anpassungsfähigkeit“ nimmt der Verwaltungsgerichtshof scheinbar – abermals ohne jegliche wissenschaftliche Herleitung oder auch nur Definition des Begriffes – „für Kinder im Alter von sieben und elf Jahren“ (VwGH 3.5.2018, Ra 2018/18/0195) an. Ähnliche Ausführungen finden sich in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs, der unter Verweis auf die bereits zitierte Rechtssache Sarumi ebenfalls von einer grundsätzlichen „Anpassungsfähigkeit“ für diese Altersgruppe auszugehen scheint (VfGH 10.3.2011, B1565/10 ua). Dem folgten auch die zur Entscheidung berufenen Unterinstanzen, so finden sich Ausführungen zum „anpassungsfähigen Alter“ in dem überwiegenden Teil der relevanten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl Analyse der Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts in Bezug auf das Kindeswohl, BlogAsyl 12.9.2022). Die Verweiskaskade führt in den Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts zumeist auf die Höchstgerichte, welche sich wiederum auf die Judikatur des EGMR beziehen, die wiederum auf eine schlichte Behauptung in einem Urteil aus dem Jahr 1999 zurückgeht.

Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung

In einer aktuellen Stellungnahme der ÖGKJP findet nun – soweit ersichtlich – erstmals eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Konzept des „anpassungsfähigen Alters“ statt. Anpassung wird dabei als wechselseitiger Prozess verstanden, der sich je nach Kind sehr unterschiedlich gestalten kann. Gerade in der Altersspanne von 6 bis 11 Jahren stellt die Peergroup einen zentralen Faktor bei der Persönlichkeitsentwicklung dar. Es ist die Zeit, in der sich allen voran Fähigkeiten auf dem Gebiet der moralischen Entwicklung generieren. Hinweise auf eine Entwicklungsperiode, die als „anpassungsfähiges Alter“ zu bezeichnen wäre, finden sich – so die Verfasser:innen – nicht. Vielmehr bedarf es stets des Einbezugs der „Komplexität und Individualität des Entwicklungsprozesses“ jedes einzelnen Kindes, um die individuelle Anpassungsfähigkeit an ein neues Lebensumfeld zu bestimmen. Auf Basis dieser Erkenntnisse gelangt die ÖGKJP zu folgender Einschätzung:

„Es gibt in der kindlichen Entwicklung keine allgemein definierbaren altersbezogenen Phasen höherer oder geringerer Anpassungsfähigkeit. Der jeweils aktuelle Ausprägungsgrad von Anpassungsfähigkeit kann ausschließlich aus der individuellen Diagnostik (belastende vs. kompensierende Faktoren; Traumatisierung vs. Resilienz) abgeleitet werden. Somit ist die Entscheidung über die Anpassungsfähigkeit im Sinne eines Kulturwechsels ohne unzumutbare Härte, die auf eine allgemein definierte Altersperiode gestützt wird, aus der fachlichen Perspektive der Kinder- und Jugendpsychiatrie zurückzuweisen, da sie nicht durch empirische Evidenz gestützt ist.“

Es liegt nun an der Rechtsprechung, den von ihr aufgestellten Rechtsgrundsatz einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und die Annahme eines allgemein gültigen „anpassungsfähigen Alters“ angesichts fehlender wissenschaftlicher Evidenz wohl auch zu revidieren.


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