Recht und Wissenschaft in Österreich

EuGH: Umfang der behördlichen und gerichtlichen Ermittlungspflicht und verfahrensrechtliche Konsequenzen einer Verletzung; Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer und Folgen einer unangemessenen Länge; sowie Bewertung der Glaubwürdigkeit eines Antragstellers


Mit Urteil vom 29. Juni 2023 entschied der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV über eine Vorlage des irischen „High Court“ in dem Verfahren des pakistanischen Staatsangehörigen X gegen das „International Protection Appeals Tribunal (IPAT)“, den irischen „Minister for Justice and Equality“ und den „Attorney General“.

X stellte im Juli 2015 einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Dieser war darauf gestützt, dass X, nachdem er einen terroristischen Zwischenfall mit etwa 40 Todesopfern überlebt habe, befürchte, in Pakistan einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Er gab an, unter Angstzuständen, Depressionen und Schlafstörungen zu leiden.

Gegen die Ablehnung des Antrags legte X im Dezember 2016 einen Rechtsbehelf beim „Refugee Appeals Tribunal“ ein. Das Rechtsbehelfsverfahren wurde aufgrund von Gesetzesänderungen, durch welche die Verfahren zum internationalen Schutz vereinheitlicht und das „International Protection Office“, sowie das IPAT geschaffen wurden, zwischenzeitlich ausgesetzt. Gegen die Ablehnung eines im März 2017 gestellten Antrags des X auf subsidiären Schutz legte dieser ebenfalls einen Rechtsbehelf ein. Im Februar 2019 wies das IPAT beide Rechtsbehelfe zurück. Diese Entscheidung griff X durch Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht an.

Der EuGH hatte zunächst über den Umfang der aus Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 folgenden Pflicht der Asylbehörde zur Zusammenarbeit zu entscheiden. Gefragt war danach, ob diese die Einholung einerseits aktueller Informationen über alle relevanten Tatsachen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsland des Antragstellers, sowie andererseits auch eines rechtsmedizinischen Gutachtens über die psychische Gesundheit des Antragstellers verlangt, wenn Anhaltspunkte für psychische Gesundheitsprobleme, die möglicherweise auf ein traumatisierendes Ereignis im Herkunftsland zurückzuführen sind, vorliegen. Beides bejahte der EuGH, wobei er die Heranziehung eines solchen Gutachtens an die Voraussetzung knüpfte, dass sich dieses als „erforderlich oder maßgeblich erweist, um zu beurteilen, inwieweit der Antragsteller tatsächlich internationalen Schutzes bedarf, sofern die Art und Weise der Heranziehung eines solchen Gutachtens u. a. mit den von der Charta garantierten Grundrechten in Einklang steht.“ (Rz. 61). Aus der Richtlinie 2005/85 ergebe sich keine Beschränkung der Mittel, die die Behörde heranziehen könne. Insbesondere sei ein Rückgriff auf ein Gutachten nicht ausgeschlossen, um die individuelle Schutzbedürftigkeit mit größerer Genauigkeit beurteilen zu können. Innerhalb der Grenzen der einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmungen, insbesondere der in der Charta garantierten Grundrechte, obliege es daher der Behörde mit dem Antragsteller zur Einholung eines Gutachtens zusammenzuarbeiten, wenn sie – was in ihrem Ermessen liege – die Erforderlichkeit und Maßgeblichkeit des Gutachtens für eine mit angemessener Wachsamkeit und Vorsicht vorzunehmende Prüfung feststelle. Dies gelte auch für das IPAT als Rechtsbehelfsgericht.

Weiter hatte der EuGH zu prüfen, welche verfahrensrechtliche Konsequenz sich aus der Verletzung der Pflicht zur Zusammenarbeit zwischen Behörde und Antragsteller ergibt. Gefragt war, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass der Verstoß gegen die Pflicht zur Zusammenarbeit zur Aufhebung der Entscheidung, durch die der Rechtsbehelf gegen die negative Entscheidung zurückgewiesen wurde, führt, oder ob dem Kläger auferlegt werden kann, nachzuweisen, dass die den Rechtsbehelf zurückweisende Entscheidung ohne die Verletzung anders hätte ausfallen können. Hierzu betont der EuGH, dass es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der Mitgliedstaaten sei, die Verfahrensmodalitäten des zweiten Instanzenzuges innerhalb der Grenzen des Äquivalenzgrundsatzes und des Effektivitätsgrundsatzes zu regeln. Diese Grenzen sieht der EuGH durch Auferlegung einer entsprechenden Nachweispflicht nicht als überschritten an. Der EuGH kommt daher zu dem Schluss, dass die im Rahmen einer zweitinstanzlichen gerichtlichen Kontrolle festgestellte Verletzung der Pflicht zur Zusammenarbeit für sich genommen nicht zwingend zur Aufhebung der ablehnenden erstinstanzlichen Entscheidung führt, da demjenigen, der internationalen Schutz beantragt, auferlegt werden kann, nachzuweisen, dass die den Rechtsbehelf zurückweisende Entscheidung anders hätte ausfallen können, wenn diese Verletzung nicht gegeben wäre.

Zudem wollte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 23 Abs. 2 und Art. 39 Abs. 4 der Richtlinie 2005/85, dahin auszulegen ist, dass die Zeitspannen, die zwischen der Einreichung des Asylantrags einerseits und dem Erlass der Entscheidungen der Asylbehörde und dem zuständigen erstinstanzlichen Gericht andererseits liegen, durch in dem Mitgliedstaat während dieser Zeit eingetretene legislative Änderungen gerechtfertigt werden können. Für den Fall, dass dies nicht möglich ist, wurde gefragt, ob die etwaige Unangemessenheit einer dieser Zeitspannen für sich genommen zur Aufhebung der Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts führt. Hierzu führt der EuGH aus, dass die Wirksamkeit des Zugangs zum internationalen Schutzstatus erfordere, dass die Prüfung des Antrags innerhalb einer angemessenen Frist abgeschlossen werde und aus dem Wortlaut des Art. 47 der Charta hervorgehe, dass die gerichtliche Verhandlung für einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innerhalb einer angemessenen Frist erfolgen müsse. Da es den Mitgliedstaaten obliege sicherzustellen, dass die Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist zum Abschluss gebracht werden,  könnten sie sich nicht auf in ihre Sphäre fallende Umstände, wie legislative Änderungen, berufen. Die Unangemessenheit einer der Zeitspannen könne jedoch grundsätzlich nicht schon für sich genommen zur Aufhebung der Entscheidung führen. Etwas anderes gelte jedoch, wenn Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die überlange Dauer des Verfahrens Auswirkungen auf seinen Ausgang hatte, insbesondere eine Beeinträchtigung der Verteidigungrechte bewirkt hat.

Zuletzt hatte der EuGH darüber zu entscheiden, ob Art. 4 Abs. 5 Buchst. e der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen ist, dass eine im ursprünglichen Antrag auf internationalen Schutz enthaltene Falschaussage, die vom Asylbewerber erläutert und zurückgenommen wurde, sobald sich die Gelegenheit dazu bot, für sich genommen verhindern kann, dass dessen generelle Glaubwürdigkeit im Sinne dieser Bestimmung festgestellt wird. Dies verneint der EuGH. Er stellt klar, dass die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers nur einen von mehreren Umständen darstellt, die das Fehlen von Unterlagen oder sonstigen Beweisen ausgleichen können. Erforderlich zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit sei eine individuelle Gesamtbeurteilung unter Berücksichtigung aller anderen relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls. Dabei stelle eine im ursprünglichen Antrag erhaltene Falschaussage sicherlich einen zu berücksichtigenden maßgeblichen Anhaltspunkt dar. Gleichzeitig sei aber auch die Erläuterung und Zurücknahme der Falschaussage bei nächster Gelegenheit, die Angaben, die an die Stelle dieser Falschaussage traten, und das weitere Verhalten des Asylbewerbers relevant.

Bearbeitet von: Marike Bosse (Ass.Iur.)


Twitter Facebook Linkedin Email Print Whatsapp Telegram

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Weitere Beiträge