Einleitung
Da bis dato eine juristische Aufarbeitung der Rechtsprechungspraxis zu dieser Thematik fehlte, entstand eine Kooperation zwischen der österreichweiten FGM/C-Koordinationsstelle und dem Verein Vienna Law Clinics, aus der eine Judikaturanalyse resultierte, welche im Folgenden dargestellt werden soll.
Zur Methodik: Im definierten Recherchezeitraum (01.01.2020 bis 31.12.2022) wurden alle Entscheidungen des BVwG im Rechtsinformationssystem des Bundes (RIS) unter dem Stichwort „Genitalverstümmelung“ gesichtet. Von den 3583 Treffern wurden für die Analyse nur jene 79 Entscheidungen als relevant erachtet, in denen eine (drohende) FGM/C tatsächlich als Asylgrund vorgebracht wurde. Zudem wurden nach der gleichen Vorgehensweise Entscheidungen des VwGH und VfGH im Zeitraum vom 01.01.2005 bis 31.12.2022 gesichtet. Die vorliegenden Entscheidungen wurden nach Staaten und Themenbereichen geclustert und so versucht, Tendenzen und Linien der Rechtsprechung auszumachen. Schließlich wurde für den Zeitraum 01.01.2020 bis 30.06.2024 nochmals eine Suche mit den Stichwörtern “Genitalverstümmelung + Reinfibulation” (193 Treffer, 84 relevant) sowie “Genitalverstümmelung + Standhaft*” (216 Treffer, 19 relevant) durchgeführt und die Treffer-Entscheidungen auf explizite Behandlung dieser Themen analysiert. Alle für diesen Beitrag relevanten Entscheidungen bezüglich Standhaftigkeit und Reinfibulation betreffen den Herkunftsstaat Somalia, weswegen sich die Ausführungen auf diesen Staat beziehen.
Die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung
Unter weiblicher Genitalverstümmelung versteht man nach der Definition der WHO die teilweise oder totale Entfernung oder sonstige Verletzung der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane aus nicht-medizinischen Gründen. Es werden nach Schweregrad vier verschiedene Formen unterschieden. Bei Typ I werden die Klitorisspitze und/oder Klitorisvorhaut teilweise oder komplett entfernt. Typ II bezieht sich auf die teilweise oder vollständige Entfernung der Klitorisspitze und die Entfernung der kleinen Vulvalippen. Bei Typ III (Infibulation) werden die komplette Klitorisspitze sowie die großen und kleinen Vulvalippen entfernt und beide Seiten der Vulva anschließend zusammengenäht. Typ IV umfasst diverse, unklassifizierte Formen von FGM/C. FGM/C wird vor allem im westlichen, östlichen und nordöstlichen Afrika, im Mittleren Osten (z.B. Iran) und in Asien (z.B. Indonesien) praktiziert. Besonders hohe Prävalenzzahlen haben u.a. Somalia (ca. 98 % aller Mädchen und Frauen) und Gambia (ca. 76 %). Durch Migrationsbewegungen steigt auch die Zahl der Mädchen und Frauen in Europa, die entweder bereits beschnitten sind oder dem Risiko ausgesetzt werden, FGM/C erleben zu müssen.
Asylrelevanz weiblicher Genitalverstümmelung
Asylrechtliche Relevanz erlangt die Praxis von FGM/C bei einer erstmalig drohenden Beschneidung (Infibulation), einer erneut drohenden Genitalverstümmelung (u. a. Reinfibulation), aufgrund der Folgen einer bereits vorgenommenen Genitalverstümmelung sowie aufgrund des Mitansehen-Müssens der Verstümmelung der eigenen Töchter. Der konkret geltend gemachte Fluchtgrund einer drohenden FGM/C kann eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) darstellen (vgl. VwGH 27.06.2016, Ra 2016/18/0045; 20.06.2017, Ra 2017/01/0039; jeweils m.w.N.).
Die geschlechterspezifische Verfolgung ist ein Sammelbegriff, der FGM/C miteinschließt und vom in der GFK genannten Verfolgungsgrund der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“, etwa der sozialen Gruppe „der unbeschnittenen Mädchen” (vgl. VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0293 m.w.N.), „beschnittenen Frauen und Mädchen“ oder „des weiblichen Geschlechts“, umfasst ist. Die für die Begründung der Flüchtlingseigenschaft erforderliche Intensität der Verfolgung ist bei (drohenden) Eingriffen in die physische Integrität – wie bei FGM/C – jedenfalls gegeben. Da die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, insb. die eigene Familie oder die Dorfgemeinschaft, erfolgt, ist die (Nicht-)Erfüllung staatlicher Schutzpflichten entscheidend.
Die (drohende) Reinfibulation
Unter einer Reinfibulation ist das erneute Verschließen einer geöffneten Infibulation (Deinfibulation) zu verstehen. Eine Reinfibulation droht vor allem nach einer Geburt, vorehelichem Geschlechtsverkehr auf Druck oder Zwang der Eltern sowie bei Frauen, die eine Vergewaltigung erleben mussten.
Nach der Rechtsprechung des BVwG kann einer drohenden Reinfibulation ebenso als geschlechtsspezifische Verfolgung Asylrelevanz zukommen (BVwG 04.03.2024, W169 2256992-1; 12.02.2024, W169 2260408-1, s. a. VfGH 23.09.2019, E 1948/2018-13). Auch der VfGH weist darauf hin, dass nach Einschätzungen des UNHCR eine bereits erfolgte FGM/C eine asylrelevante Verfolgung begründen könne, „sei es wegen schwerer, oft lebenslang schädigender Konsequenzen physischer und psychischer Art des ursprünglichen Eingriffes oder der Gefahr einer Vornahme weiterer Genitalverstümmelungen (anderer Form)“. Nur weil bereits eine Genitalverstümmelung erfolgte, rechtfertige dies daher keinesfalls ohne weitere Erhebungen die Annahme, dass die Situation der Beschwerdeführerin nicht asylrechtlich relevant wäre und keine Reinfibulation drohe (VfGH 23.09.2019, E 1948/2018-13).
Aus der Zusammenschau aller gesichteten Erkenntnisse des BVwG zur Thematik der Reinfibulation ergibt sich, dass eine unfreiwillige Reinfibulation hinsichtlich Beschwerdeführerinnen aus Somalia vor allem dann vorliegen kann, wenn es sich bei der Beschwerdeführerin um eine unverheiratete und kinderlose und damit alleinstehende Frau handelt, die aus einer ländlichen Region kommt. Diese Einschätzung folgt aus den wiedergegebenen Länderfeststellungen in den Erkenntnissen zu Somalia (va basierend auf LIFOS 16.4.2019; DIS 1.2016; CEDOCA 9.6.2016 und 13.6.2016). Gemäß diesen erfolge eine Reinfibulation insb. dann, wenn Frauen – üblicherweise noch vor der ersten Eheschließung – eine bestehende Jungfräulichkeit vorgeben wollen. Die Verbreitung variiere geographisch. In Städten sei eine Reinfibulation eher unüblich.
Das BVwG verneint hingegen grundsätzlich eine asylrelevante Verfolgung, wenn die Beschwerdeführerin verheiratet ist und bereits Kinder geboren hat oder geschieden sowie verwitwet ist. Wie die wiedergegebenen Länderfeststellungen in den Erkenntnissen zu Somalia bestätigen, gebe es für verheiratete oder geschiedene Frauen und Witwen keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben. Ob es nach einer Geburt zu einer Reinfibulation kommt, obliege den Länderberichten nach in der Regel der Entscheidung der betroffenen Frau. Es könne aber nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck ihres persönlichen Umfeldes bzw. den Ehemann dazu gedrängt werden. Eine Herkunft aus städtischem Raum spreche laut Ansicht des BVwG (basierend auf den Länderfeststellungen) ebenso tendenziell gegen eine unfreiwillige Reinfibulation.
Aufgrund der Tatsache, dass bei den Typen I und II keine Verschließung vorgenommen wird, hält das BVwG zudem in zwei der analysierten Entscheidungen fest, dass keine Reinfibulation und damit keine asylrelevante Verfolgung in Frage komme (BVwG 20.10.2023, W186 2256825-1 u. a.; 10.08.2022, W265 2255601-1). Im Hinblick auf die Praxis ist dies auch plausibel. In weiterer Folge ist jedoch, wie auch vom BVwG vorgenommen, die Wahrscheinlichkeit einer erneuten (schwereren) Genitalverstümmelung zu prüfen, da die Länderberichte zu Somalia nicht ausschließen, dass es in wenigen Fällen zu einer erneuten Genitalverstümmelung kommen kann, bspw. weil die Familie eine umfassendere Beschneidung (Typ III – Verschließung) wünscht.
Die Standhaftigkeit der Mutter
Das BVwG prüft in Fällen, in denen weibliche Genitalverstümmelung als Asylgrund vorgebracht wird, regelmäßig die sogenannte „Standhaftigkeit” der Mutter. Es geht also der Frage nach, ob eine Mutter, die FGM/C ablehnt, in der Lage ist, ihre ablehnende Haltung durchzusetzen und eine FGM/C an ihrer Tochter zu verhindern. Dies steht grundsätzlich auch in Einklang mit der entsprechenden höchstgerichtlichen Judikatur (VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0293).
Das BVwG geht, entsprechend den Länderberichten für Somalia, davon aus, dass „die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, in erster Linie bei der Mutter [liegt]” (bspw. BVwG 17.04.2024, W196 2277682-1/11E u. a.; 23.04.2024, W186 2259465-1). Um die Standhaftigkeit der Mutter zu prüfen, werden folglich verschiedene Dimensionen abgewogen, wobei sich diese an den Länderberichten orientieren: Einerseits wird der Fähigkeit der Mutter, sich dem familiären und/oder gesellschaftlichen Druck zu widersetzen, zentrale Bedeutung beigemessen (bspw. BVwG 17.01.2023, W222 2254762-1). Als Indiz gegen eine ausreichende Standhaftigkeit wurde angenommen, dass sich die Mutter schon bei einer anderen Tochter nicht dem gesellschaftlichen und familiären Druck widersetzen und diese nicht entsprechend schützen konnte (BVwG 13.02.2020, W211 2150333-2/26E u. a.). Andererseits spielt die geografische Herkunft eine Rolle: In eher städtischen Gebieten bestehe geringerer gesellschaftlicher Druck, weshalb es der Mutter bzw. den Eltern leichter falle, diesem gegenüber standhaft zu bleiben (bspw. BVwG 27.09.2021, W251 2205104-1). In kleinstädtischen oder ruralen Gebieten wäre es hingegen schwieriger, ein Unterbleiben des Eingriffs zu verheimlichen, und der gesellschaftliche Druck sei als höher zu bewerten (BVwG 12.03.2020, W239 2166573-3/10E u. a.). Auch das „selbstbewusste Auftreten der Mutter” in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG wurde (gemeinsam mit einer unterstützenden Haltung des Vaters) als Hinweis auf eine ausreichende Standhaftigkeit der Mutter gewertet (BVwG 06.04.2020, W232 2211559-1). Neben den bereits genannten Aspekten kann, sofern sich eine Relevanz aus den Länderfeststellungen ergibt, nach der Rechtsprechung des VwGH die Rolle weiterer Familienmitglieder für die Beurteilung der Standhaftigkeit der Mutter relevant sein, weshalb derartige Vorbringen zu berücksichtigen sind (VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0293).
Bei Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, wie im Fall von FGM/C, ist asylrechtlich die (Nicht-)Erfüllung staatlicher Schutzpflichten entscheidend. Ob das vorrangige Abstellen auf die Standhaftigkeit der Mutter angesichts hoher Prävalenzzahlen im gegebenen Ausmaß gerechtfertigt ist, bleibt zu hinterfragen. Auch wenn aus den Länderberichten hervorgeht, dass in erster Linie die Mutter über die Vornahme einer Beschneidung entscheidet, so erscheint die Prüfung der Standhaftigkeit dieser angesichts des komplexen Zusammenspiels vieler Faktoren – wie bspw. familiärer und gesellschaftlicher Werthaltungen, des psychischen Drucks und sozialer Beziehungsgeflechte sowie deren Wechselwirkung – an mancher Stelle als oberflächlich.
Literatur:
Jirovsky-Platter, E., Maukner, A., Mohamed, S., El Jelede, U., Wolf, H. (2024). „Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) in Österreich – Eine Mixed-Methods-Studie. Endbericht.“ Wien: Medizinische Universität Wien.