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Kinder als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit? – Zur vorübergehenden Aussetzung des asylrechtlichen Familiennachzugs (Teil I)

10. September 2025 in Beiträge
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Tags: Art. 72 AEUV, Art. 8 EMRK, Familiennachzug, Familienzusammenführung

Dr.in Ulrike Brandl

Dr.in Ulrike Brandl war am Fachbereich Völkerrecht, Europarecht und Grundlagen des Rechts an der Universität Salzburg tätig und ist seit 1.10.2024 im Ruhestand. Siehe auch BRANDL, Ulrike – Universität Salzburg.

DDr. Philip Czech

DDr. Philip Czech ist Senior Scientist an der Universität Salzburg, Österreichisches Institut für Menschenrechte. Er forscht und lehrt zum internationalen und innerstaatlichen Schutz der Grund- und Menschenrechte, dem Asyl- und Migrationsrecht sowie dem Strafvollzugsrecht. Er ist Herausgeber des Newsletter Menschenrechte und Co-editor des European Yearbook on Human Rights.


Schenkt man den Äußerungen des Innenministers Glauben, so sind das Bildungswesen, die sozialen Systeme und die Sicherheit in Österreich nur zu retten, wenn der Familiennachzug zu Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten ein rasches Ende findet (vgl Pressestatement Karner und Plakolm). Schon im März wurde daher die vorübergehende Aussetzung des asylrechtlichen Familiennachzugs angekündigt, am 3.7.2025 tatsächlich in Kraft gesetzt. Warum diese Maßnahme weder einer unions- noch einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhält, legt der folgende Beitrag dar.

Einleitung

Am 3.7.2025 trat eine Maßnahme in Kraft, mit der eine erhebliche Einschränkung des Familiennachzugs zu Asylberechtigten einhergehen soll. Damit wurde ein Plan umgesetzt, den die Bundesregierung bald nach Antritt ihres Amtes medienwirksam angekündigt hatte. Mit dem propagierten Stopp des Familiennachzugs reagiert die Politik auf eine Reihe tatsächlicher oder vermeintlicher Probleme, denen sie nicht anders Herr werden zu können behauptet. So soll einer  Überlastung der Aufnahmekapazitäten entgegengewirkt werden, die sich vor allem im Bildungsbereich auswirkt, aber auch andere Bereiche belastet und sich früher oder später in einer steigenden Jugendkriminalität niederschlagen soll. Dass die Umsetzung der Pläne doch einige Monate in Anspruch genommen hat, liegt nicht zuletzt an der gewählten rechtlichen Konstruktion, die neben einer Änderung des Asylgesetzes auch die Erlassung einer Verordnung der Bundesregierung nach Konsultation des Hauptausschusses des Nationalrats erforderte.

Familiennachzug zu Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten nach bisher geltendem Recht

Familienangehörigen von in Österreich aufhältigen Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten steht gemäß § 35 AsylG ein eigenes Verfahren zur Verfügung, das mit Erleichterungen einhergeht. Insbesondere müssen die Angehörigen von Asylberechtigten keine materiellen Voraussetzungen (Unterhalt, Versicherung, ortsübliche Wohnung) nachweisen, wenn sie den Antrag binnen drei Monaten nach Zuerkennung des Status des in Österreich aufhältigen Familienmitglieds stellen. Bei subsidiär Schutzberechtigten sind die Hürden höher, müssen sie doch erstens die materiellen Voraussetzungen unabhängig vom Antragszeitpunkt erfüllen und können zweitens den Antrag erst drei Jahre nach rechtskräftiger Statusgewährung stellen (zur Problematik der Wartefrist vgl diesen Beitrag).

Sowohl die Angehörigen von Asylberechtigten als auch jene von subsidiär Schutzberechtigten können bei der Berufsvertretungsbehörde im Ausland einen Antrag auf ein Einreisevisum stellen, um in Österreich ein Asylverfahren zu durchlaufen, in dem der Status des bereits aufhältigen Familienmitglieds auf sie erstreckt wird. Die Vertretungsbehörde hat den vollständigen Antrag an das BFA weiterzuleiten, das anhand einer Prognose eine Mitteilung darüber erstattet, ob die Gewährung von Asyl bzw subsidiärem Schutz in Österreich wahrscheinlich ist. An die Mitteilung ist die Berufsvertretungsbehörde gebunden, sie hat daher ein Visum D zu erteilen; bei einer negativen Prognose ist der Antrag mit Bescheid abzuweisen. Die Vertretungsbehörde muss spätestens binnen sechs Monaten entscheiden, eine Verletzung der Entscheidungspflicht kann mit Säumnisbeschwerde geltend gemacht werden.

Die Aussetzung des Familiennachzugs

Die vorübergehende Aussetzung des Familiennachzugs wurde mit einem Eingriff in das Verfahren bewerkstelligt. Nach dem neuen § 36a AsylG 2005 wird die Entscheidungsfrist von sechs Monaten gehemmt, wenn und solange eine entsprechende Verordnung in Kraft ist. Mit dieser stellt die Bundesregierung fest, „dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit gefährdet sind“. Der Konnex zur öffentlichen Ordnung und Sicherheit musste hergestellt werden, um dem mit der Aussetzung des Familiennachzugs verbundenen Abweichen vom Unionsrecht eine Rechtfertigung gemäß Art 72 AEUV zu geben (dazu gleich unten). Seit 3.7.2025 ist die erste derartige Verordnung in Kraft. Sie gilt von 3.7.2025 bis 2.1.2026. Gemäß § 36 Abs 3 AsylG 2005 kann die Verordnung maximal drei Mal um jeweils bis zu sechs Monate verlängert werden. Anträge von Angehörigen Asyl- oder subsidiär Schutzberechtigter auf Familiennachzug gemäß § 35 AsylG 2005 müssen somit spätestens seit 3.7.2025 grundsätzlich nicht mehr behandelt werden. Aufgrund der Verlängerungsoption kann diese Fristhemmung deutlich länger als sechs Monate aufrechterhalten werden. § 36 Abs. 2, § 36 Abs. 1a und § 36a samt Überschrift AsylG 2005 treten mit 30.9.2026 außer Kraft.

Gegenausnahme zur Wahrung von Art 8 EMRK

Gemäß § 36a Abs 2 AsylG 2005 tritt die in Abs 1 vorgesehene Hemmung der Entscheidungsfrist nicht ein, „wenn eine Erledigung des Antrags innerhalb von sechs Monaten […] gemäß Art 8 EMRK (§ 9 Abs 2 BFA-VG) dringend geboten ist“. Immer dann, wenn eine Wiedervereinigung der Familienmitglieder in Österreich „dringend geboten ist“, bleibt somit die Pflicht der Behörde zur unverzüglichen Erledigung des Antrags unverändert bestehen. „Dringend“ ist wohl dahingehend auszulegen, dass die Hemmung nicht eintreten darf, wenn Art 8 EMRK einen rascheren Familiennachzug verlangt. Mit anderen Worten muss die Behörde davon ausgehen, dass die Frist – nach dem insofern klaren Wortlaut ex lege – nicht gehemmt wird, wenn ansonsten eine Verletzung von Art 8 EMRK droht. In diesem Fall ändert sich nichts an der generellen Entscheidungspflicht gemäß § 73 AVG. Selbstverständlich handelt es sich bei den sechs Monaten um eine Maximalfrist, die nichts an der Verpflichtung der Berufsvertretungsbehörde ändert, ohne unnötigen Aufschub zu entscheiden.

Ob die Familienzusammenführung vor Ablauf der Entscheidungsfrist dringend geboten ist, hat die Berufsvertretungsbehörde auf gesonderten Antrag mit Feststellungsbescheid zu entscheiden. Gegen einen negativen Bescheid steht das allgemeine Rechtsmittel der Beschwerde an das BVwG zur Verfügung, eine Verletzung der Entscheidungspflicht kann mit Säumnisbeschwerde bekämpft werden. Als Besonderheit sieht § 36a Abs 3 AsylG 2005 für die Entscheidung über diesen Antrag eine Frist von acht Wochen vor.

Verfahrensrechtliche Ausgestaltung

Wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt, wird durch das Inkrafttreten der Verordnung die für die Behörde geltende Entscheidungsfrist gehemmt. Ein während der Gültigkeit einer gemäß § 36 Abs 1 AsylG 2005 erlassenen Verordnung gestellter Antrag ist daher von der Berufsvertretungsbehörde nicht etwa als unzulässig zurückzuweisen, sondern zur Entscheidung entgegenzunehmen. Zumindest in jenen Fällen, in denen Gründe für den Vorrang des Rechts auf Achtung des Familienlebens vorgebracht werden, hat die Berufsvertretungsbehörde wie üblich unverzüglich die Stellungnahme des BFA einzuholen. Der Behörde bleibt es jedenfalls unbenommen, negative Entscheidungen zu erlassen, wenn die Voraussetzungen für den Familiennachzug ohnehin nicht erfüllt sind. Aussichtsreiche Anträge sind hingegen nicht zu erledigen – darin liegt ja gerade der Sinn und Zweck der Neuregelung.

Die Fristenhemmung tritt gemäß den Übergangsbestimmungen auch in Verfahren ein, die am 3.7.2025 bereits anhängig waren. Sollte der Antrag bereits seit mehr als sechs Monaten anhängig sein, so ändert die Verordnung nichts an der bereits eingetretenen Säumnis. Auf bereits beim BVwG anhängige Verfahren – sei es aufgrund einer Beschwerde gegen einen Bescheid der Berufsvertretungsbehörde oder einer Säumnisbeschwerde – wirkt sich der Erlass der Verordnung schon nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes nicht aus. Im Hinblick auf die grundrechtsbezogene Ausnahme sieht § 36a Abs 3 AsylG 2005 vor, dass die für deren Anwendung sprechenden Gründe bereits im Antrag nach § 35 AsylG 2005 „genau zu bezeichnen“ sind. Wurde der Antrag bereits vor Inkrafttreten der VO eingebracht, so sind diese Gründe „ohne unnötigen Aufschub“ nachzureichen, spätestens aber in einer Säumnisbeschwerde gegen die Hemmung der Entscheidungsfrist.


Teil II des Beitrags betrachtet ob der Familiennachzug einen Notstand begründet und sich aus der neuen Regelung ergebende verfassungsrechtliche Bedenken.


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