Herausgewachsen. Familienzusammenführung von (ehemals) minderjährigen Asylberechtigten
2. Mai 2024 in
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3 Kommentare
Tags: Age-Out, EuGH, Familienzusammenführung
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Das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-560/20 könnte die Familienzusammenführung von minderjährigen Flüchtlingen in Österreich maßgeblich verändern. Ein guter Grund, die derzeitige Notwendigkeit einer doppelten Verfahrensführung zu beleuchten und auf ihre Zulässigkeit zu prüfen.
Was bisher geschah
Bereits seit dem Jahr 2004 bietet das Asylgesetz Eltern von asylberechtigten Minderjährigen die Möglichkeit, einen Antrag auf Einreise an einer österreichischen Botschaft zu stellen, um hier nach Einreise denselben Schutz gem. § 34 AsylG 2005 zu erhalten.
Obwohl gesetzlich nie klar geregelt, gingen die Behörden – analog zur Bestimmung für nachziehende Kinder – lange Zeit davon aus, dass zur Bewertung der Minderjährigeneigenschaft das Datum der Antragstellung an der Botschaft heranzuziehen sei. Eine während des Verfahrens eingetretene Volljährigkeit schmälerte nicht das Recht auf Familienzusammenführung.
Dies änderte sich mit einem Erkenntnis des VwGH vom 28.01.2016 (Ra 2015/21/0230), in welchem das Gericht anführte, dass die in Österreich befindlichen Bezugspersonen auch zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung noch minderjährig sein müssten. Andernfalls sei die Familieneigenschaft der antragstellenden Personen nicht mehr gegeben und eine Einreise aus diesem Grund nicht möglich.
Ob minderjährige Schutzberechtigte eine Möglichkeit auf Familienzusammenführung hatten, hing fortan maßgeblich von der Dauer sowohl des Asylverfahrens als auch des Verfahrens gem. § 35 AsylG ab. Da beide Umstände nicht in der Einflusssphäre der Antragsteller:innen liegen, erscheint diese Auslegung im Hinblick auf die Rechtssicherheit als höchst bedenklich.
Die Geburtsstunde der doppelten Verfahrensführung
Ähnlich sah dies der EuGH in seinem Urteil vom 12.04.2018 in der Rechtssache C-550/16, in dem er argumentierte, dass das Recht auf Familienzusammenführung nicht von der Bearbeitungsgeschwindigkeit der Behörden abhängen dürfe. Der EuGH sprach demnach auch Personen, die als Minderjährige den Asylantrag gestellt, denen jedoch erst als Volljährige Asyl zuerkannt wurde, das Recht auf Familienzusammenführung mit ihren Eltern zu, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung in diesen Fällen binnen drei Monaten ab Asylgewährung gestellt wird.
Das Aufatmen von Rechtsberater:innen nach diesem Urteil währte jedoch nicht lange. Bereits mit Erkenntnis vom 03.05.2018 (Ra 2017/19/0609) integrierte der VwGH das Urteil des EuGH in das innerstaatliche Regime der Familienzusammenführung. Nach Ansicht des VwGH sei in Verfahren gem. § 35 AsylG weiterhin das Entscheidungsdatum für die Bewertung der Minderjährigkeit ausschlaggebend, da die Richtlinie – im Gegensatz zum genannten Verfahren – nicht vorschreibe, dass den Antragsteller:innen der Asylstatus zuzuerkennen sei. Personen, die ihre Rechte aus der Richtlinie geltend machen wollen, müssten demnach einen Antrag gem. § 46 NAG einbringen, wobei im Hinblick auf die antragstellenden Eltern der Begriff „Familienangehöriger“ von seiner Legaldefinition gem. § 2 Abs. 1 Z 9 NAG zu entkoppeln sei, um ein unionsrechtwidriges Ergebnis zu vermeiden.
Rund ein Jahr später konkretisierte der VwGH am 25.06.2019 (Ra 2018/19/0568) das Verhältnis zwischen diesen beiden Anträgen dahingehend, dass kein Wahlrecht bestehe, welcher Antrag eingebracht wird. Entsprechen die Antragsteller:innen der Familiendefinition des § 35 Abs. 5 AsylG, ist ein Antrag gem. § 35 AsylG einzubringen, andernfalls ein Antrag gem. § 46 NAG.
In der Praxis warfen diese Entscheidungen jedoch mehr Fragen auf als sie beantworteten, so etwa:
Es wurden somit aus rechtsfreundlicher Vorsicht regelmäßig sowohl Anträge gem. § 35 AsylG als auch gem. § 46 NAG eingebracht. Diese Vorgehensweise erscheint jedoch nicht nur in verfahrensökonomischer Hinsicht als bedenklich. Vielmehr haben gerade Eltern von minderjährigen Asylberechtigten regelmäßig doppelte Verfahrensgebühren zu entrichten und doppelt so lange auf eine Entscheidung zu warten. Ob dies zulässig ist, kann im Hinblick auf das Kindeswohl sowie den seitens des EuGH aufgestellten Effektivitätsgrundsatz als fraglich erachtet werden.
Ausblicke und Auswege
Sowohl im Urteil vom 01.08.2022 (C-273/20 & C-355/20) als auch im Urteil vom 30.01.2024 (C-560/20) stellte der EuGH fest, dass die eingetretene Volljährigkeit keinen tauglichen Grund zur Abweisung eines Antrags auf Familienzusammenführung darstellt. In letzterem Fall sprach der EuGH dezidiert zur österreichischen Rechtslage aus, dass die Abweisung der Anträge gem. § 35 AsylG nicht im Einklang mit der Richtlinie stand.
Betrachtet man diese Urteile in Zusammenspiel mit der Rsp des VwGH, dass kein Wahlrecht auf die Art des Antrages bestehe, drängt sich der Schluss auf, dass die Abweisung eines Antrages gem. § 35 AsylG aufgrund der eingetretenen Volljährigkeit der Bezugsperson nicht mehr in Betracht kommt. Andernfalls müsste auf jeden Fall eine Rechtfertigung erfolgen, inwiefern die Notwendigkeit der doppelten Antragstellung, Begleichung der Verfahrensgebühren sowie Verfahrensdauer im Einklang mit dem seitens des EuGH geforderten Effektivitätsgrundsatz steht.
Es wäre im Sinne der Rechtssicherheit dringend geboten, dass Gesetzgeber und Höchstgerichte eine diesbezügliche Lösung erarbeiten.
Ein Weg wäre das Abweichen von der bisherigen Rechtsprechung und ein – den Ausführungen des EuGH folgend – Abstellen auf die Minderjährigkeit zum Antragszeitpunkt. Dass in diesem Fall nach der Einreise trotz Volljährigkeit der Bezugsperson ein Status gem. § 34 AsylG gewährt werden kann, würde sich aus dem Argument der Verfahrensvereinfachung ergeben (analog zu Ra 2018/14/0040). Diesem Ansatz folgend ist bereits ein Urteil des BVwG ergangen, mit welchem die Abweisung aufgrund der eingetretenen Volljährigkeit behoben wurde (W165 2268123-1).
Ein anderer Ansatz wäre die grundsätzliche und vom Alter unabhängige Antragstellung nach den Bestimmungen des NAG. Hier wären jedoch begleitende Maßnahmen im Hinblick auf die Versorgungssicherheit nach Einreise vonnöten. Es ist der (ehemals) minderjährigen Bezugsperson nämlich idR nicht möglich und zumutbar, für den Unterhalt der gesamten Familie aufzukommen.
Welcher Ansatz seitens des Gesetzgebers oder der Gerichte auch gewählt wird, vorrangiges Ziel wäre es in jedem Fall, die derzeitige Notwendigkeit einer doppelten Verfahrensführung zu beseitigen.
1. Februar 2024 von Blog Asyl in Rechtsprechung
Auch der volljährigen Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, die aufgrund einer schweren Krankheit vollständig und dauerhaft auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen ist, muss ein Aufenthaltstitel erteilt werden, wenn eine entsprechende Weigerung dazu führen würde, dass diesem Flüchtling das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern genommen würde.
Gerichtshof der Europäischen Union
17. August 2022 von Blog Asyl in Rechtsprechung
Die Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung eines Kindes mit seinem Vater, das volljährig geworden ist, bevor sein Vater als Flüchtling anerkannt wurde und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung, verstößt gegen das Unionsrecht.
EuGH
3. November 2022 von Blog Asyl in Rechtsprechung
Die Minderjährigkeit des als Flüchtling anerkannten Kindes auch noch zum Zeitpunkt der Entscheidung über einen Familienzusammenführungsantrag der Eltern stellt keine „Bedingung“ dar, bei deren Nichterfüllung die Mitgliedstaaten einen solchen Antrag ablehnen können.
Mir erschließt sich unter Beachtung der Judikatur (siehe grundlegend VwGH 3.5.2018, Ra 2017/19/0609 bis 0611, Rn. 27 ff.) nicht, weshalb Anträge nach dem NAG und dem AsylG zeitgleich (aus „rechtsfreundlicher Vorsicht“) eingebracht werden, da doch klar ist oder sein sollte, wann welcher Antrag einzubringen ist bzw. welcher Zweck durch die beiden Bestimmungen verfolgt wird (vgl. zuletzt etwa VwGH 23.2.2024, Ra 2023/22/0080 Rn. 13). Auch wenn beide Bestimmungen auf die Familienzusammenführung ausgerichtet sind verfolgt § 35 AsylG einen asylspezifischen Zweck und
§ 46 NAG nicht. Es ist mE nicht Aufgabe des VwGH oder des Gesetzgebers die Rechtsvertretungen nach bereits erfolgter Klarstellung noch weiter anzuleiten. Es ist wohl eher Aufgabe der Rechtsvertretungen den korrekten Weg auszuwählen und dahingehend ist die Kritik bzgl. doppelter Verfahrensgebühren etc. wohl an die Rechtsvertretungen zu richten. Für fehlerhafte bzw. unnötige Vorgehensweise oder Beratung sind, wenn die Voraussetzungen vorliegen, im Übrigen die Zivilgerichte im Rahmen des Schadenersatzes zuständig und nicht der VwGH.
Es erscheint mir übrigens, dass nicht beachtet wird, dass das Urteil C-560/20 vom 30.1.2024 des EuGH bereits in den letzten Monaten Eingang in die Rsp. des VwGH gefunden hat (vgl. jüngst etwa VwGH 23.2.2024, Ra 2023/22/0080; VwGH 20.3.2024, Ra 2020/22/0199; VwGH 20.3.2024, Ro 2020/22/0017 oder VwGH 20.3.2024, Ro 2020/22/0011).
Sehr hilfreich. Vielen Dank für ihre Bemühungen.
Lg
Vielen Dank für die Anmerkungen.
Zeitgleiche Anträge gem § 35 Asylg und § 46 NAG wurden bis Ende Jänner 2024 eingebracht, da nicht geklärt war, ob die Antragstellung im (Folge)Verfahren nach § 46 NAG der in C-550/16 genannten Frist unterliegt (das haben auch die Verwaltungsgerichte unterschiedlich beurteilt). Erst mit Urteil des EuGH in der Rs C-560/20 und der folgenden Rsp des VwGH wurde klargestellt, dass hier keine Frist besteht.
Nichtsdestotrotz besteht nach wie vor die Frage, welcher Antrag im Fall einer 17jährigen Bezugsperson eingebracht werden sollte.
Den Ausführungen in Ra 2018/19/0568 folgend ist ein Antrag gem § 35 AsylG dann zu stellen, wenn (zum Antragszeitpunkt) § 34 AsylG anwendbar ist.
Ist § 34 AsylG hingegen nicht anwendbar, ist ein Antrag gem § 46 NAG einzubringen. Dem Urteil folgend besteht somit auch keine Wahlfreiheit, welcher Antrag eingebracht wird.
Der Zweck beider Anträge ist unabhängig vom zu erteilenden Aufenthaltsstatus die Familienzusammenführung.
Während also für die Wahl des richtigen Antrages die Situation zum Antragszeitpunkt ausschlaggebend ist, ist für den Erfolg des Verfahren gem § 35 AsylG die Situation (das Alter) zum Entscheidungszeitpunkt wesentlich.
Nun dauern Verfahren gem § 35 AsylG aber regelmäßig 12 Monate oder mehr bis eine Prognoseentscheidung erfolgt. Dies übersteigt zwar die zulässige Höchstdauer sowohl nach § 73 AVG als auch Art 5 Abs 4 der RL, ist aber durch die Hemmung der Frist bis zum Einlangen der Prognoseentscheidung gem § 35 Abs 4 rechtlich abgesichert (vgl VwGH 27.01.2023, Ra 2021/19/0265).
Dies führt in der Praxis regelmäßig dazu, dass zurecht gestellte Anträge gem § 35 AsylG rein aufgrund der jeweiligen Verfahrensdauer mit Erreichen der Volljährigkeit der Bezugsperson abgewiesen werden, weshalb in der Folge eine weiterer Antrag gem § 46 NAG eingebracht werden muss. Dieser weitere Antrag führt zu neuerlichen Verfahrensgebühren, erneuten Anreisen zur Botschaft und einer Verdoppelung der Verfahrensdauer.
ME ist dies nicht mit dem durch den EuGH seit der Rs Chakroun entwickelten Effektivitätsgrundsatz vereinbar.