Recht und Wissenschaft in Österreich

„neue Elemente oder Erkenntnisse“ zu Rechtskraft und nova reperta, Teil II

5. Oktober 2021 in Beiträge
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Tags: entschiedene Sache, Folgeantrag, nova reperta, Vorabentscheidungsersuchen, Wiederaufnahme

Mag. Thomas Putscher

Mag. Thomas Putscher ist Rechtsberater bei der Caritas Wien und seit Jahren im Asylbereich tätig.


Anmerkungen zum Zusammenspiel von Bestimmungen der Verfahrensrichtlinie und dazu bereits ergangener unionsrechtlicher Rechtsprechung sowie zu möglichen Spannungen mit der gegenwärtigen österreichischen Rechtslage

Wie im ersten Teil ausgeführt, wird der VwGH zu beurteilen haben, inwiefern die genannten innerstaatlichen Bestimmungen im Einklang mit dem Unionsrecht stehen. Obwohl sich der Spruch des Urteils (der ausdrücklich nur auf Art 40 Abs 3 der Richtlinie Bezug nimmt) nur darauf bezieht, dass die Prüfung „in der Sache“ im Einklang mit dem Kapitel II der Richtlinie zu stehen hat, werden die nationalen Vorschriften aber wohl auch daran zu messen sein, ob „die in [..] Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 40 genannten Zulässigkeitsvoraussetzungen eingehalten werden“, wie sich aus Rz 48 und 49 des Urteils ergibt.

Der EuGH verweist im Rahmen seines aktuellen Urteils vom 09.09.2021, C-18/20 an mehreren Stellen auf sein Urteil vom 10.06.2021, C-921/19, mit dem er bereits klargestellt hat, dass die in Art 40 der Richtlinie normierte Beurteilung der Zulässigkeit eines „weiteren Antrags“ (damit ist in diesem Zusammenhang ein Antrag auf Geltendmachung von nova reperta gemeint, den die Richtlinie in ihrem Art 40 als „Folgeantrag“ behandelt) in zwei Schritten zu erfolgen hat: nämlich in einem ersten Schritt, ob im (bloßen) Vergleich zum ersten Verfahren „neue Elemente oder Erkenntnisse“ vorliegen (Art 40 Abs 2 der Richtlinie) und in einem zweiten Schritt, ob „diese Elemente und Erkenntnisse erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist“ (erster Teil des Konditionalsatzes des Art 40 Abs 3 der Richtlinie). Erst in einer weiteren (der zweiten) Etappe ist der – zulässige – Antrag dann „in der Sache“ zu prüfen (vgl Rz 46 des Urteils vom 09.09.2021, C-18/20 sowie Rz 34 seines Urteils vom 10.06.2021, C-921/19).

Zum Urteil vom 10.06.2021, C-921/19:

Aus der Beantwortung der zweiten an ihn herangetragenen Frage im Spruch seines Urteils vom 10.06.2021 sowie aus dessen Rz 40 und 58 geht aber auch hervor, dass schon im ersten Prüfschritt Art 4 der Qualifikationsrichtlinie 2011/95 zu beachten ist. Ein „weiterer Antrag“ nach Art 40 der Verfahrensrichtlinie stellt nämlich auch einen Antrag auf internationalen Schutz dar, auf den Art 31 Abs 1 der Richtlinie Anwendung findet (Rz 31 und 32), der die Beachtung der Grundsätze und Garantien des Kapitels II anordnet (Rz 30). Bei der Prüfung der Zulässigkeit von „weiteren Anträgen“ ist aus diesem Grund einerseits derselbe Beurteilungsmaßstab wie bei Erstanträgen anzulegen (Rz 58 und 40 beziehen sich auf Art 40 Abs 2 der Verfahrensrichtlinie und somit schon auf den ersten Schritt der Zulässigkeitsprüfung) und ist der Mitgliedstaat andererseits gemäß Art 10 (Abs 3 lit a) der Verfahrensrichtlinie sowie Art 4 der Qualifikationsrichtlinie bei der Bewertung der „neuen Elemente und Erkenntnisse“ verpflichtet, mit den Antragstellenden zu kooperieren bzw (wie aus Rz 61 hervorgeht) diese neuen Elemente und Erkenntnisse „unter Mitwirkung de[r] Antragstelle[nden]“ zu prüfen, womit wohl das Führen eines umfassenden Ermittlungsverfahrens gemeint sein wird.

Zum Urteil vom 09.09.2021, C-18/20:

Die Beantwortung der zweiten an den EuGH gerichteten Frage, die sich lediglich auf Art 40 Abs 3 der Richtlinie bezieht (arg.: „Art. 40 Abs. 3 […] ist dahin auszulegen […]“), wird demnach so zu verstehen sein, dass die innerstaatlichen Bestimmungen zur Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens nur dann dem Unionsrecht entsprechen, wenn betreffend die Prüfung der Zulässigkeit (also bei den beiden Schritten der ersten Etappe) jedenfalls Art 33 Abs 2 lit d in Verbindung mit Art 40 der Richtlinie eingehalten werden. Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen zum Urteil des EuGH vom 10.06.2021 werden aber wohl auch schon im Rahmen dieser Zulässigkeitsprüfung die Grundsätze und Garantien des Kapitels II (und damit auch Art 31 Abs 1 der Richtlinie sowie Art 4 der Qualifikationsrichtlinie) einzuhalten sein, obwohl Artikel 40 Abs 3 der Richtlinie eine Prüfung des Antrags „gemäß Kapitel II“ erst nach dessen Zulassung (also nach Bejahung der Frage, dass die neuen Elemente oder Erkenntnisse erheblich zur Wahrscheinlichkeit der Zuerkennung des internationalen Schutzes beitragen) vorsieht.

Somit wird ein nach österreichischer Rechtslage wiederaufgenommenes Verfahren (bei dem einem auf § 69 AVG bzw § 32 VwGVG gestützten Antrag auf Wiederaufnahme stattgegeben und das abgeschlossene Verfahren wiederaufgenommen wurde) den Grundsätzen und Garantien des Kapitels II der Richtlinie wohl ohne weiteres entsprechen. Ob die im ersten Beitrag dargestellte innerstaatliche Rechtslage zur Wiederaufnahme des Verfahrens den unionsrechtlichen Vorgaben betreffend die Zulässigkeit eines „weiteren Antrags“ entspricht, dürfte hingegen recht fraglich sein und erscheint es in diesem Zusammenhang angebracht, auf folgende Aspekte hinzuweisen:

  • Da Artikel 41 der Richtlinie die Mitgliedstaaten lediglich zu „Ausnahmen vom Recht auf Verbleib bei Folgeanträgen“ unter den dort normierten Voraussetzungen ermächtigt, wird im Umkehrschluss wohl davon auszugehen sein, dass bei auf nova reperta gestützten Anbringen (jedenfalls in den von den Ausnahmen nicht umfassten Fällen, wobei diese gemäß Art 41 Abs 1 letzter Satz der Richtlinie selbst dann keinesfalls zulässig sind, wenn „eine Rückkehrentscheidung [eine] direkte oder indirekte Zurückweisung zur Folge“ hätte) unionsrechtlich ein Recht auf Verbleib gemäß Art 9 der Richtlinie besteht, das sich auch auf die „erste Etappe“ der Prüfung nach Art 40 der Richtlinie (Prüfung der Zulässigkeit) beziehen wird, weil Artikel 41 der Richtlinie sich auf den gesamten Art 40 der Richtlinie bezieht, der auch die erste Etappe (Zulässigkeitsprüfung) mitumfasst. Dass nach nationalem Recht in Wiederaufnahmeverfahren kein Recht auf Verbleib vorgesehen ist, wird demnach nicht dem Unionsrecht entsprechen und angesichts der Antwort des EuGH auf die dritte ihm vorgelegte Frage dem Unionsrecht solange nicht entsprechen können, solange der österreichische Gesetzgeber keine Sondernorm zur Umsetzung der in Art 41 der Richtlinie normierten Ausnahmen trifft.
  • In ihrem Art 33 Abs 2 lit d sieht die Richtlinie vor, dass Anträge „nur dann als unzulässig“ betrachtet werden können, wenn der erste Schritt (zur Prüfung der ersten Etappe) ergibt, dass keine neuen Umstände oder Erkenntnisse „zutage getreten oder […] vorgebracht worden sind“, wohingegen der auf diese Bestimmung verweisende Art 40 Abs 5 der Richtlinie sich auf beide Schritte der ersten Etappe zu beziehen und eine Unzulässigkeitsentscheidung somit auch aufgrund der Prüfung des zweiten Schrittes der ersten Etappe zuzulassen scheint. Wie diese beiden Bestimmungen in Einklang zu bringen sind, erschießt sich zumindest auf den ersten Blick nicht ganz, obwohl es einen wesentlichen Unterschied machen wird, ob ein Antrag noch infolge des zweiten Prüfschritts zurückgewiesen werden darf oder es nur auf den ersten ankommt.
  • Was die Verfahrensvorschriften betreffend die Prüfung des ersten Schrittes der Zulässigkeit eines „weiteren Antrags“ anbelangt, so fällt auf, dass Art 42 Abs 1 auf Art 12 Abs 1 der Richtlinie verweist, der in seiner lit b einen Anspruch auf Beiziehung eines Dolmetschers vorsieht, wohingegen Art 42 Abs 2 lit b der Richtlinie den Mitgliedstaaten einräumt, „die erste Prüfung [gemäß Artikel 40 Abs 2] allein auf der Grundlage schriftlicher Angaben ohne persönliche Anhörung [zu] gestatten“ (was auch der letzte Satz des Art 34 Abs 1 der Richtlinie vorsieht). Wie diese Anordnungen (auch vor dem Hintergrund, dass vermutlich bereits im ersten Schritt Art 4 der Qualifikationsrichtlinie zu beachten ist) zu verstehen sind, erscheint etwas unklar, jedoch stellt der letzte Satz dieser Bestimmung jedenfalls klar, dass die nationalen „Bestimmungen [..] weder den Zugang […] zu einem neuen Verfahren unmöglich machen noch zu einer effektiven Aufhebung oder erheblichen Beschränkung dieses Zugangs führen“ dürfen. Auch hier ist anzumerken, dass sich österreichische Behörden und Gerichte vor dem Hintergrund der Antwort des EuGH auf die dritte ihm vorgelegte Frage wohl nicht auf Art 42 Abs 2 lit b der Richtlinie berufen werden können, solange der nationale Gesetzgeber keine Sondernorm zur Umsetzung dieses Artikels trifft.
  • Wie sich aus Rz 32 des Urteils vom 10.06.2021, C-921/19 ergibt, ist auch ein Antrag auf Geltendmachung von nova reperta ein Antrag auf internationalen Schutz gemäß Art 2 lit b der Richtlinie. Vor diesem Hintergrund scheint dann aber fraglich, ob die nationale Rechtslage, wonach ein Antrag auf Wiederaufnahme des Asylverfahrens für den Fall, dass die wiederaufzunehmende Entscheidung durch eine Entscheidung des BVwG in Rechtskraft erwachsen ist, bei diesem einzubringen ist, dem Unionsrecht entspricht: Art 40 der Richtlinie ist nämlich in ihrem Kapitel III eingebettet, das den Titel „Erstinstanzliche Verfahren“ trägt (worauf auch der EuGH in Rz 30 seines Urteils vom 10.06.2021 hinweist), was nahe legt, dass das Unionsrecht fordert, dass der Antrag nicht bei der Rechtsmittelinstanz, sondern bei der erstinstanzlichen Behörde einzubringen ist. Darauf deutet im Übrigen auch Art 46 Abs 1 lit a ii der Richtlinie hin, der einen Rechtsbehelf vor einem Gericht gegen eine Entscheidung sicherstellt, mit der ein „weiterer Antrag“ gemäß Art 33 Abs 2 (lit d) der Richtlinie als unzulässig betrachtet wird, was wohl voraussetzt, dass die Entscheidung davor von der Behörde zu treffen ist. Dass auch nach der Rechtsprechung des VwGH eine Verkürzung des Instanzenzugs mit den allgemeinen Grundsätzen eines rechtstaatlichen Verfahrens nicht im Einklang steht (etwa E des VwGH vom 26.02.2015, 2013/16/0029 sowie jene vom 29.04.2013, 2010/16/0089, mwN), sei hier nur am Rande angemerkt.
  • Da die nationale Rechtsprechung, wonach „Wiederaufnahmegründe [weder] ausgetauscht noch neue Wiederaufnahmegründe geltend gemacht werden“ können, vor dem Hintergrund der Ausschlussfrist ergangen ist, wird diese wohl nicht weiter aufrechterhalten werden können, zumal (wohl schon) im Rahmen des ersten Schritts der Prüfung der Zulässigkeit eines „weiteren Antrags“ Art 4 der Qualifikationsrichtlinie beachtlich sein dürfte. Außerdem gebietet Art 46 Abs 3 iVm Abs 1 der Richtlinie „eine umfassende Ex-nunc-Prüfung“ im Rechtsmittelverfahren auch bei Anträgen, die gemäß Art 33 Abs 2 der Richtlinie als unzulässig betrachtet werden und wäre es seltsam, diesen Maßstab nicht auch auf jenes Organ anzulegen, das (davor) über deren Zulässigkeit zu entscheiden hat.Angesichts dieser vom Unionsrecht vorgesehenen umfassenden Ex-nunc-Prüfung im Rechtsmittelverfahren auch bei „weiteren Anträgen“ sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass auch fraglich sein dürfte, ob die bisherige, innerstaatliche Asylfolgeanträge betreffende Rechtsprechung aufrechterhalten werden kann, wonach die „Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrages auf Grund geänderten Sachverhalts [..] nur anhand der Gründe, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens vorgebracht wurden, zu erfolgen“ habe und „[n]eues Sachverhaltsvorbringen in der Beschwerde […] unbeachtlich“ sei.
  • Wie aus Rz 52 seines Urteils vom 09.09.2021 hervorgeht sind nach Ansicht des EuGH gleiche Maßstäbe angelegt, wenn die nationale Rechtslage darauf abstellt, ob nova reperta „voraussichtlich einen […] anders lautenden Bescheid“ herbeiführen würden, und die Richtlinie auf einen erheblichen Beitrag zur Wahrscheinlichkeit der Zuerkennung des internationalen Schutzes abstellt, womit die nationale Rechtslage zumindest in diesem Punkt der Unionsrechtslage entsprechen dürfte.

Zwar mag bei der Rechtsanwendung zuweilen eine unionsrechtskonforme Auslegung geboten sein und lässt die Rechtsprechung des VwGH hiebei sogar zu bzw gebietet, Rechtsbegriffe erforderlichenfalls von der Legaldefinition „abzukoppeln (VwGH vom 03.05.2018, Ra 2017/19/0609 Rz 37, Ra 2016/22/0025, Rz 23). Angesichts der Fülle an ungeklärten Rechtsfragen, von denen hier vermutlich nur ein Bruchteil angerissen wurde, erscheint eine unionsrechtskonforme Interpretation der nova reperta betreffenden nationalen Bestimmungen mit Blick auf die Rechtssicherheit aber ausgesprochen bedenklich, weil den Rechtsunterworfenen bei ihrer Rechtsverfolgung jegliche Orientierungspunkte fehlen und mit diesen zeitnah auch nicht zu rechnen sein wird, wodurch der Rechtsschutz dieser besonders vulnerablen Personengruppe leidet.

Dass diese von mir schon vor geraumer Zeit aufgeworfene Rechtsfrage mit diesem Urteil endlich geklärt ist, ist sehr erfreulich, hingegen befremdet der erhebliche Zeitraum bis zu deren Klärung und der Umstand ein wenig, dass das BVwG in keinem der mir bekannten Fälle die Revision zugelassen hat.

Welche Auswirkungen dieses Urteil auf die österreichische Rechtslage konkret haben wird, ist schwer einzuschätzen, wird sich aber wohl in Kürze weisen.


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