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VwGH 17.5.2022, Ra 2021/19/0209: Familienverfahren auch bei prekären familiären Verhältnissen?


Der Verwaltungsgerichtshof beschäftigte sich mit der Frage, ob einem asylwerbenden Familienvater, der gegenüber seiner Ehefrau gewalttätig und geschieden worden ist bzw. seine minderjährige Tochter nur mehr im Rahmen eines begleiteten Kontaktrechts sehen darf, im Familienverfahren derselbe Schutz wie seiner Ex-Frau und der Tochter einzuräumen ist.

Eine afghanische Familie, bestehend aus Vater, Mutter und minderjähriger Tochter, stellte Anträge auf internationalen Schutz, die vom BFA vollinhaltlich negativ entschieden wurden. Das BVwG gab der Beschwerde der Mutter und dem Kind teilweise statt und erkannte ihnen jeweils den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu. Mit Erkenntnis vom selben Tag wies das BVwG die Beschwerde des Vaters – gegenständlich der Revisionswerber ‑ hingegen als unbegründet ab.

Begründend führte das BVwG ‑ soweit hier maßgeblich ‑ zusammengefasst aus, eine Ableitung des Status des subsidiär Schutzberechtigten von seiner früheren Ehefrau komme für den Revisionswerber nicht in Betracht, weil er von dieser im Entscheidungszeitpunkt geschieden sei. Eine Ableitung von seiner minderjährigen Tochter sei ebenfalls nicht möglich, weil für die Anwendung des § 34 AsylG 2005 das Bestehen eines Familienlebens Voraussetzung sei, ein solches aber nicht bestehe. So sei die frühere Ehefrau seit einem knappen Jahr mit der alleinigen Obsorge der Tochter betraut, der Revisionswerber zahle keinen Unterhalt für seine Tochter und verfüge lediglich über ein begleitetes Kontaktrecht im Abstand von zumindest drei Wochen. Der ‑ strafgerichtlich unbescholtene ‑ Revisionswerber sei gegenüber seiner früheren Ehefrau gewalttätig gewesen, was die Tochter wahrgenommen habe. Außerdem habe er vor seiner Tochter gedroht, sich umzubringen und sie sei wegen einer vom Revisionswerber zu verantwortenden Medikamentenintoxikation stationär im Krankenhaus behandelt worden. Vor diesem Hintergrund ging das BVwG davon aus, dass das Familienleben zwischen dem Revisionswerber und seiner Tochter „aufgelöst“ sei, weshalb die Ableitung des Status des subsidiär Schutzberechtigten „in verfassungskonformer Interpretation“ des § 34 AsylG 2005 nicht möglich sei.

Der VwGH pflichtete dem BVwG zwar hinsichtlich der nicht in Frage kommenden Ableitung des Status des subsidiär Schutzberechtigten von der früheren Ehefrau des Revisionswerbers bei, verwarf aber die Rechtsauffassung des BVwG hinsichtlich der Ableitung von der minderjährigen Tochter. Zunächst wies der VwGH auf seine ständige Rechtsprechung hin, wonach § 34 AsylG 2005 der Beschleunigung der Asylverfahren von Asylwerbern im Familienverband diene und es Ziel der Bestimmungen sei, Familienangehörigen den gleichen Schutz zu gewähren, ohne sie um ihr Verfahren im Einzelfall zu bringen. Dabei betonte der VwGH, dass der in § 34 AsylG 2005 verwendete Begriff des Familienangehörigen ‑ anders als etwa bei der Anwendung des § 35 AsylG 2005 ‑ im Sinne der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu verstehen ist.

Der VwGH verwies weiters auf das Urteil des EuGH vom 9. November 2021, C-91/20, LW/Bundesrepublik Deutschland, wonach die im gegenständlichen Fall anzuwendenden Art. 3 und 23 Abs. 2 Statusrichtlinie dahin auszulegen seien, dass sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern würden, auf der Grundlage günstigerer nationaler Bestimmungen dem minderjährigen Kind eines Drittstaatsangehörigen, dem in Anwendung der mit dieser Richtlinie geschaffenen Regelung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, zur Wahrung des Familienverbands die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuzuerkennen, sofern dieses Kind nicht unter einen der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie falle und es aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder eines anderen Merkmals seiner persönlichen Rechtsstellung Anspruch auf eine bessere Behandlung in dem genannten Mitgliedstaat hätte als die Behandlung, die sich aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergebe.

Unter Verweis auf die jüngst ergangene Entscheidung, VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0105 und unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH (EuGH 9.9.2021, C-768/19, Bundesrepublik Deutschland/SE [siehe dazu den Rechtsprechungsbeitrag vom 10. September 2021]; 4.10.2018, C-652/16, Ahmedbekova und Ahmedbekov, und erneut C-91/20, LW/Bundesrepublik Deutschland) kam der VwGH abschließend zu dem Ergebnis, dass eine nationale Regelung, die eine Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an einen Familienangehörigen kraft Ableitung vorsehe ‑ wie gegenständlich § 34 Abs. 3 AsylG 2005 ‑, als günstigere Regelung im Sinne des Art. 3 der Statusrichtlinie, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutz aufweise, sofern die Notwendigkeit bestehe, den Familienverband zu wahren. Eine solche Notwendigkeit bestehe hingegen nicht (mehr), wenn jegliche familiäre Beziehung gelöst sei und die Aufrechterhaltung oder die Wiederaufnahme der familiären Beziehung gar nicht stattfinde, sondern bloß für die Erlangung eines Aufenthaltsrechtes vorgeschoben werde, weil in so einem Fall die Aufrechterhaltung des Familienverbandes nicht mehr Zweck der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kraft Ableitung wäre.

Im gegenständlichen Fall könne aber ‑ so der VwGH ‑ angesichts der vom BVwG festgestellten Umstände (gemeinsame Einreise, Bestehen eines begleiteten Kontaktrechtes des Revisionswerbers zu seiner minderjährigen Tochter sowie Ausübung dieses Kontaktrechtes) nicht davon gesprochen werden, dass zwischen dem Revisionswerber und seiner minderjährigen Tochter jegliche Bindung im Sinne der Rechtsprechung des EGMR (vgl. u.a. EGMR 19.2.1996, Gül, 23218/94; 24.4.1996, Boughanemi, 22070/93) gelöst worden sei. Es liege nach den Feststellungen des BVwG auch kein Fall vor, in dem die Aufrechterhaltung oder die Wiederaufnahme der familiären Beziehung gar nicht stattfinde, sondern bloß für die Erlangung eines Aufenthaltsrechts vorgeschoben werde und in dem damit auch keine Notwendigkeit (mehr) bestehe, den Familienverband zu wahren.

Bearbeitet von: Mag. Magar Salama


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