Mit Urteil vom 30. Juni 2022, C-72/22 PPU, Rechtssache M.A., entschied der EuGH ein Eilvorabentscheidungsverfahren auf Grund einer Vorlage des Obersten Verwaltungsgerichts von Litauen in einem Verfahren zwischen M.A., einem Drittstaatsangehörigen, und dem Staatlichen Grenzschutzdienst beim Innenministerium der Republik Litauen wegen dessen Antrags auf Inhaftnahme von M.A.
M.A. war mit einer Gruppe aus Litauen kommender Personen in Polen festgenommen worden, weil er weder Reisedokumente noch das für den Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat und der Union erforderliche Visum besaß. Er wurde im litauischen Hoheitsgebiet Bediensteten des Staatlichen Grenzschutzdienstes übergeben und in Haft genommen. Sein Antrag auf internationalen Schutz wurde vom Staatlichen Grenzschutzdienst als unzulässig zurückgewiesen.
Das Urteil des EuGH bezieht sich auf spezielle Regelungen des litauischen Ausländergesetzes im Fall einer ausgerufenen Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern. Eine solche Notlage war im Juli 2021 in Litauen ausgerufen worden. Die betreffenden Regelungen sahen u.a. vor, dass Drittstaatsangehörige, die nach illegaler Überschreitung der Staatsgrenze in das litauische Hoheitsgebiet gelangt waren, in Haft genommen werden durften, und schränkten deren Zugang zum Asylverfahren ein. Das Oberste Verwaltungsgericht von Litauen hatte Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Regelungen mit dem Unionsrecht.
Der EuGH stellt zunächst fest, dass eine nationale Bestimmung, nach der einem Drittstaatsangehörigen, dessen Aufenthalt illegal ist, allein deshalb die Möglichkeit genommen wird, nach seiner Einreise in das litauische Hoheitsgebiet einen Asylantrag zu stellen, ihn daran hindert, das in Art. 18 GRC verankerte Recht tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Die Bestimmung genügt daher nicht den Anforderungen von Art. 6 und Art. 7 der Verfahrens-Richtlinie 2013/32/EU bzw. führt zu einer erheblichen Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit des nach Art. 7 dieser Richtlinie jedem Drittstaatsangehörigen zustehenden Rechts, Asyl zu beantragen. Sie lässt sich auch nicht mit Art. 72 AEUV rechtfertigen, wobei die litauische Regierung überdies nicht erläutert hat, inwiefern sich eine solche Maßnahme im Fall einer Notlage wegen des massiven Zustroms von Migranten auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit auswirken würde.
Darüber hinaus stellt der EuGH klar, dass der Umstand, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufhält, nicht zu den Gründen zählt, die nach Art. 8 der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU die Inhaftnahme des Antragstellers rechtfertigen können. Ein Drittstaatsangehöriger darf folglich nicht allein aus dem Grund seines illegalen Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates in Haft genommen werden, zumal die Illegalität des Aufenthalts einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, für sich genommen nicht als Nachweis für das Vorliegen einer hinreichend erheblichen Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung angesehen werden kann. Davon unberührt bleibt die Möglichkeit, eine solche Gefahr bei Vorliegen besonderer, die Gefährlichkeit der betreffenden Person belegender Umstände, die zur Illegalität ihres Aufenthalts hinzukommen, zu bejahen. Soweit sich die litauische Regierung auf die Möglichkeit zu berufen scheint, auf Grund der außergewöhnlichen Situation des Zustroms von Migranten auf Grundlage von Art. 72 AEUV von sämtlichen Bestimmungen der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU abzuweichen, ist darauf hinzuweisen, dass sie insoweit nur allgemeine Erwägungen geltend macht, die die Anwendung des Art. 72 AEUV im Hinblick auf die diesbezügliche einschlägige Rechtsprechung des EuGH nicht rechtfertigen können.
Bearbeitet von: Dr. Martina Lais