Recht und Wissenschaft in Österreich

EuGH: Familienzusammenführung auch für verheiratete Minderjährige möglich


Ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der sich in einem Mitgliedsstaat aufhält, muss nicht unverheiratet sein, um zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinen Eltern die Rechtsstellung eines Zusammenführenden zu erlangen (EuGH 17.11.2022, C-230/21).

Mit Urteil vom 17. November 2022 entschied der EuGH in der Rechtssache C-230/21 über ein Vorabentscheidungsersuchen des Belgischen Rats für Ausländerstreitsachen zwischen X und dem Belgischen Staat wegen Ablehnung eines Antrags auf ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung.

X, eine Palästinenserin aus dem Libanon, beantragte bei der belgischen Botschaft ein Visum zur Familienzusammenführung sowie zwei humanitäre Visa für ihre minderjährigen Söhne. Die Tochter von X heiratete mit 15 Jahren im Libanon und reiste 2017 nach Belgien ein, um zu ihrem Ehemann zu ziehen, welcher über eine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügte. Die Heiratsurkunde der Tochter wurde zuvor von den belgischen Behörden nicht anerkannt, da es sich gemäß belgischem Privatrecht um eine Kinderehe handelt, welche mit der öffentlichen Ordnung nicht vereinbar ist. Die Tochter wurde als Flüchtling anerkannt.

Die Visumanträge von X wurden abgelehnt, da gemäß belgischem Ausländerrecht die Kernfamilie aus Ehegatten und unverheirateten minderjährigen Kindern besteht und die Tochter seit dem Eingehen einer im Land der Eheschließung gültigen Ehe nicht mehr zur Kernfamilie der Eltern gehört. Gegen die ablehnenden Bescheide erhob X Klage beim vorlegenden Gericht. Dieses setzte das Verfahren aus und legte dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung die Frage vor, ob das Unionsrecht (insb Abs. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs 3 Buchst. a der Richtline 2003/86) dahin auszulegen ist, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, nach seinem nationalen Recht unverheiratet sein muss, damit ein Recht auf Familienzusammenführung mit Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades entsteht.

Der EuGH stellt fest, dass sich aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 ergibt, dass die Einreise und der Aufenthalt der Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings zum Zweck der Familienzusammenführung zu gestatten ist. Das Recht auf Familienzusammenführung unterliegt weder dem Ermessen der Mitgliedstaaten noch unterliegt es den in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen.  Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 sieht nicht ausdrücklich vor, dass der minderjährige Flüchtling unverheiratet sein muss.

Gemäß Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 ist ein unbegleiteter Minderjähriger ein „Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.“

Der EuGH führt aus, dass sich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in einer besonders schutzbedürftigen Situation befinden, weshalb die Begünstigung der Familienzusammenführung gerechtfertigt ist. Eine Auslegung des Art. 10 Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 auf Unverheiratete würde dem Ziel des besonderen Schutzes minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge widersprechen. Der EuGH hält fest, dass verheiratete Minderjährige nicht weniger schutzbedürftig sind, vielmehr könnten sich diese in Gewaltsituationen wie Zwangs- oder Kinderehen befinden.

Vor diesem Hintergrund kommt der EuGH zum Schluss, dass Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, nicht unverheiratet sein muss, um zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades die Rechtsstellung eines Zusammenführenden zu erlangen.

Bearbeitet von: Marla Meilinger


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