Die Rechtslage
§ 88 Abs 1 FPG sieht die Ausstellung von Fremdenpässen vor: an Staatenlose oder Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit, unabhängig ihres Aufenthaltsstatus (Z 1); Drittstaatsangehörige, die über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht verfügen oder bei denen die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“ gegeben sind und die nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Herkunftsstaates zu beschaffen (Z 2 und 3); oder Personen, die seit mindestens vier Jahren ununterbrochen ihren Hauptwohnsitz im Bundesgebiet haben (unabhängig vom Besitz oder von der Möglichkeit der Beschaffung eines Reisedokumentes), sofern der:die zuständige Bundesminister:in oder die Landesregierung bestätigt, dass die Ausstellung des Fremdenpasses wegen der von den Fremden erbrachten oder zu erwartenden Leistungen im Interesse des Bundes oder des Landes liegt und sohin ein qualifiziertes Interesse der Republik Österreich vorliegt (Z 5), oder auch zur Auswanderung bei Nichtvorliegen eines hierfür erforderlichen Reisedokuments (Z 4). Darüber hinaus haben sämtliche Antragsteller:innen den Nachweis zu erbringen, dass die Ausstellung im Hinblick auf die Person der Betroffenen im Interesse der Republik gelegen ist.
Anders stellt sich die Rechtslage dar, wenn es sich um Staatenlose oder Personen ungeklärter Staatsangehörigkeit, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, handelt oder um Personen, denen der Status als subsidiär Schutzberechtigte zukommt. Diese haben lediglich darzulegen, dass sie nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument zu beschaffen, nicht jedoch, dass die Ausstellung in Bezug auf die betroffene Person im Interesse der Republik Österreich liegt.
§ 90 bis 93 FPG sehen Regelungen zur Gültigkeitsdauer, Gebietsbeschränkungen sowie zur Versagung und Entziehung von Fremdenpässen vor.
Die Datenlage
Obgleich entsprechende Statistiken zur Ausstellungspraxis und der jeweils herangezogenen Rechtsgrundlage von Seiten des Bundesministeriums für Inneres scheinbar nicht geführt werden, legt auch die Anfragebeantwortung vom 12.8.2022 zur GZ 2022-0.454.479 vor dem Hintergrund der dort angeführten Herkunftsländer (Afghanistan, Irak, Somalia, Syrien, staatenlos) zumindest nahe, dass Ausstellungen von Fremdenpässen maßgeblich auf Basis von § 88 Abs 2 und 2a FPG erfolgen.
Auch eine Analyse der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 88 Abs 1 FPG verdeutlicht die Schwierigkeiten bis geradezu Unmöglichkeit, ein positives Interesse der Republik Österreich nachzuweisen. Im Rahmen einer Suche im Rechtsinformationssystem des Bundes, Judikatur Bundesverwaltungsgericht, unter dem Abfragefeld Norm zu FPG §88 Abs1 nicht Abs2 wurden 98 Entscheidungstexte ohne Rechtssätze (Abfrage am und bis einschließlich 2.3.2023) angezeigt, wobei eine Zurückweisung aufgrund verspäteter Beschwerdeerhebung und zehn Abweisungen, die irrigerweise der Bestimmung zugewiesen wurden, in Abzug zu bringen sind. Zudem erfolgten zwei Zurückverweisungen an das BFA aufgrund neuen Vorbringens. In sechs Fällen erfolgte die Abweisung des Antrags auf Ausstellung eines Fremdenpasses ausschließlich auf Grundlage anderer fehlender Voraussetzungen, wie Zumutbarkeit der Beschaffung eines Reisedokumentes des Heimatstaates und weil der Beschwerdeführer einem von der Bestimmung nicht umfassten Personenkreis angehörte. In nur zwei Fällen wurde den Beschwerden stattgegeben, in einem Erkenntnis unterstützte die Gemeinde den Antrag, im zweiten wurde auf das Interesse der Republik nicht eingegangen. In sämtlichen anderen 77 Verfahren wurde die Ausstellung eines Fremdenpasses gemäß § 88 Abs 1 FPG entweder ausschließlich oder hilfsweise mit der Begründung versagt, dass im Hinblick auf die betroffene Person ein Interesse der Republik nicht nachgewiesen werden konnte. Nicht anders sieht es in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs aus, dem lediglich Ab- und Zurückweisungen von Rechtsmitteln zu entnehmen sind. Der Verfassungsgerichtshof setzte sich bislang (noch) nicht mit diesem Aspekt auseinander.
§ 88 Abs 1 FPG im Einklang mit Art 2 4. ZP EMRK?
Befristet oder unbefristet Aufenthaltsberechtigte, die nach Österreich geflohen sind und denen kein internationaler Schutzstatus zuerkannt oder dieser zu einem späteren Zeitpunkt etwa aufgrund der Änderung der Sicherheitslage im Herkunftsland wieder aberkannt wurde, sind infolge der Flucht vielfach nicht im Besitz eines gültigen Reisedokumentes. Gleichzeitig sind diese Personengruppen oftmals auch nicht in der Lage, sich ein solches Dokument ihres Herkunftsstaates in Österreich zu beschaffen. Dies hat vielerlei Gründe: sei es, dass – wie im Falle von Somalia – Reisedokumente für die Ein- und Ausreise nicht anerkannt werden und es überdies keine Vertretungsbehörde gibt, dass die Vertretungsbehörde keine Reisedokumente – wie im Falle vom Irak – ausstellt, oder dass aufgrund eines Regimewechsels – wie im Falle von Afghanistan – keine Ausstellungen von Reisedokumenten (mehr) möglich sind.
Inhaber:innen einer Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG (§§ 55 bis 57 AsylG) oder nach dem NAG können sich unter bestimmten Voraussetzungen, wozu der Besitz eines gültigen Reisedokuments zählt, – und idR für eine beschränkte Dauer – im Schengenraum frei bewegen bzw. steht es ihnen unter Einhaltung der Ein- und Ausreisebestimmungen frei, ins Ausland zu reisen (vgl. Art 21 Abs 1 Schengener Übereinkommen, Art 15 Abs 4 Daueraufenthaltsrichtlinie, völkerrechtliche Gepflogenheit).
Wie bereits in Teil 1 zur Rechtssache L.B. gegen Litauen (EGMR 14.06.2022, 38121/20) dargelegt, kommt das Grundrecht auf Ausreisefreiheit auch rechtmäßig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen zu. Es kann somit angenommen werden, dass es sich bei der Versagung der Ausstellung eines Fremdenpasses immer dann um einen Eingriff handelt, wenn es der Aufenthaltsberechtigten nicht möglich ist, sich ein Reisedokument auf andere Weise zu beschaffen, da sie ohne ein solches nicht ausreisen kann und somit auf unbestimmte und unvorhersehbare Zeit von der Inanspruchnahme ihrer Grundrechte ausgeschlossen ist.
Es stellt sich in einem weiteren Schritt die Frage, ob der Nachweis des „Interesses der Republik Österreich“ an der Ausstellung mit den weiteren grundrechtlichen Vorgaben in Einklang zu bringen ist. Der Verwaltungsgerichtshof setzte sich bereits wiederholt damit auseinander, in welchem Fall ein Interesse der Republik Österreich anzunehmen sei, und folgte in seiner Auslegung dem Willen des Gesetzgebers aus dem Jahr 1993. Demnach würde die Republik Österreich durch das Ermöglichen von Reisefreiheiten auch eine Verpflichtung gegenüber den Gastländern übernehmen und wäre die Ausstellung von Reisedokumenten an Fremde restriktiv zu behandeln. Der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs ist kein einziger Sachverhalt zu entnehmen, in welchem das Vorliegen eines solchen Interesses jemals bejaht wurde (weder wurden als legitim angesehen Reisen mit österreichischen Familienmitgliedern noch zur Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft noch für die Eheschließung; noch ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Reisefreiheit oder des Familienlebens noch ein Interesse an der Gewährleistung der Erwerbsfreiheit oder auch nur zur Schaffung klarer passrechtlicher Verhältnisse noch ein Interesse der Teilnahme an internationalen Sportwettbewerben).
Das Vorliegen eines Interesses der Republik Österreich im Hinblick auf die betroffene Person ist weiters unter keinem der legitimen Eingriffsziele zu subsumieren. Besonders die Auslegung des Verwaltungsgerichtshofs zeigt deutlich, dass es eben nicht um potentiell negatives Verhalten der Einzelperson gegenüber der Allgemeinheit oder Einzelnen geht, sondern vielmehr darum, dass sich aus der Ausstellung eines Fremdenpasses eine positive Folge für die Republik Österreich ergeben müsse. Zudem existieren bereits andere (gelindere) Bestimmungen, die eine Einzelfallprüfung ermöglichen und insbesondere in nachvollziehbarer Weise der Verhütung von Straftaten sowie dem Interesse der öffentlichen Sicherheit dienen. So sieht § 92 FPG vor, dass die Ausstellung von Fremdenpässen an Personen, bei denen Anhaltspunkte für die Annahme bestehen, dass ebendiese Interessen durch ihre Reisetätigkeiten gefährdet sein könnten, zu versagen ist. Die bestehenden Vorgaben ermöglichen zudem keine individuelle Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines solchen Eingriffs (etwa auch im Zusammenhang mit weiteren Grundrechten), sondern wird die Ausstellung pauschal und damit ohne Bezug zum konkreten Einzelfall versagt.
Vor diesem Hintergrund ist sohin davon auszugehen, dass die Republik ihrer Schutzpflicht zur Gewährleistung des Grundrechts nach Art 2 Abs 2 4. ZP EMRK durch die Beibehaltung der Wortfolge „sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik gelegen ist“ des § 88 Abs 1 FPG nicht ausreichend nachkommt. Die bestehende Vorgabe hat im Lichte der Judikatur letztlich zur Folge, dass Aufenthaltsberechtigten, die nicht in der Lage sind, Reisedokumente ihres Herkunftsstaats zu erhalten, die Inanspruchnahme ihrer Grundrechte dauerhaft verwehrt bleibt.