Aus Anlass der 7. Jahreskonferenz der Refugee Law Initiative (RLI) an der University of London diskutierten Ende Juni mehrere hunderte Expert:innen im internationalen Asylrecht, ob verschiedenste Formen von Ungleichbehandlung unter Schutzsuchenden gegen internationale Diskriminierungsverbote verstoßen. Diese Diskussion geht auf die bereits seit Anfang 2022 bestehende Entrüstung über die scheinbar ungleiche – nämlich bessere – Behandlung von Ukrainer:innen zurück, die dieser Beitrag erneut aufgreift. Die bereitwillige Aufnahme von Ukrainer:innen auf Basis der EU Massenzustrom-Richtlinie (TPD) stand in starkem Kontrast zu den üblichen Abschottungsmaßnahmen der EU-Mitgliedstaaten gegenüber Schutzsuchenden, insbesondere der Schließung der Westbalkanroute 2015/16, der Grenzschließung gegenüber Belarus und gewalttätigen Pushbacks an der spanisch-marokkanischen Grenze. Unterstrichen wurde diese Unterscheidung nur noch durch diverse Kommentierungen von europäischen Politiker:innen und Journalist:innen, die ihre Haltung zu Solidarität schlagartig zu ändern schienen, als es um die Aufnahme von weißen, christlichen Schutzsuchenden ging.
Wie dieser Beitrag zeigt, können einige Ungleichbehandlungen von Schutzsuchenden tatsächlich das Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschrechtskonvention (EMRK) verletzen. Eine Verletzung ist insbesondere wahrscheinlich, wenn „verdächtige“ Charakteristika, wie Nationalität, Ethnie, oder auch der Migrationsstatus für die Unterscheidung herangezogen werden und der Eingriff wichtige Rechte betrifft, wie etwa im Fall von Abweisungen oder Inhaftierung (an der Grenze) ohne Prüfung des Einzelfalles, sondern aufgrund ebendieses Merkmals. In abstracto ist es schwierig, eine tatsächliche Diskriminierung festzustellen. Die Aktivierung der TPD hat jedoch gezeigt, dass die EU-Mitgliedstaaten Möglichkeiten haben, mit Massenzustrom anderweitig umzugehen, als dies bisher geschah, und insofern die bisherige Abschottungspolitik delegitimiert.
Die möglichen Fallkonstellationen gehen selbstverständlich weit über die hier dargestellten hinaus. So könnten sich in Zukunft bspw. Personen, die unter der TPD aufgenommen wurden, aufgrund ihrer zeitlich begrenzten und schwächeren Rechtsstellung gegenüber Personen mit positivem Asylbescheid benachteiligt sehen. Der Schutzbereich der TPD umfasst weiters nicht alle aus der Ukraine vertriebenen Personen und unterscheidet auf Basis des Migrationsstatus in der Ukraine. Außerdem sind mit der Frage über die Ungleichbehandlung viele weitere (nicht rechtliche) Fragen über Gerechtigkeit verbunden.
Die Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie: Bevorzugte Behandlung von Ukrainer:innen?
Am 4. März 2022 aktivierte die EU erstmals durch einen Ratsbeschluss die TPD , um die rasche Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Ukraine zu ermöglichen. Sowohl die Aktivierung der TPD selbst als auch die Definition ihres Geltungsbereichs schafften eine Ungleichheit zwischen den von der TPD erfassten Personen und anderen Schutzsuchenden. Sie betrifft in erster Linie den Zugang zu sicherem Territorium und damit jene Rechte, die durch das Verbot von Refoulement und kollektiver Ausweisung geschützt sind.
Somit bevorteilt der Ratsbeschluss Schutzsuchende, indem er unmittelbaren Zugang zum Territorium gibt. Umgekehrt bedeutete die Nicht-Aktivierung der TPD einen massiven Nachteil für alle anderen Schutzsuchenden, die ebenfalls in Massenbewegungen die EU erreichen. Dies nicht nur, weil sie ein langwieriges, wahrscheinlich überlastetes Asylverfahren durchlaufen müssen, während dem die Aufnahmestandards geringer sind als jene unter der TPD. Sondern auch, weil sie regelmäßig zusätzlich (vor und während des Zugangs zur EU) mit zahlreichen Hindernissen konfrontiert werden.
Die der TPD zugrunde liegende ratio ist dennoch nicht primär, Einzelnen Zugang zum Asylverfahren zu verschaffen – das wäre ohnehin ihr Recht. Stattdessen geht es in erster Linie darum, staatliche Systeme im Zusammenhang mit der Aufnahme von großen Zahlen an Schutzsuchenden vor Überforderung zu bewahren, indem man Prozesse vereinfacht und die Aufnahmestandards auf einem mittleren Niveau (zwischen Erstaufnahme und Anerkennung des Schutzstatus) hält. Diese Überlegung stellt nicht unwesentlich darauf ab, dass die von Krieg oä vertriebenen Personen nach kurzer Zeit (längstens drei Jahren) wieder in ihre Heimat zurückkehren können.
Insofern ist nicht die Aktivierung der TPD selbst das potenziell diskriminierende Verhalten, da sie den Ukrainer:innen auf die gesetzlich vorgesehene Weise (zumindest kurzfristig) Vorteile verschafft. Das eigentliche Problem liegt in der „Nicht-Aktivierung“ der TPD für andere Personengruppen und der daraus resultierenden wesentlichen Schlechterstellung Anderer in vergleichbaren Umständen. Diese „Nicht-Aktivierung“ ist wiederum keine einzelne Maßnahme, sondern äußert sich in einem Bündel von Maßnahmen bzw einer seit langem bestehenden Abschottungspolitik, die sich in einer Vielzahl von staatlichen Maßnahmen manifestiert. Alleine dieser Umstand zeigt bereits, dass eine Verletzung des Diskriminierungsverbots von mehreren Faktoren abhängt, wie den spezifischen Maßnahmen, den konkreten Umständen der benachteiligten Person und nicht zuletzt der Beweislage.
Zusätzlicher Schutz durch Diskriminierungsverbote?
In Anbetracht der gravierenden Rechtseingriffe, vor denen bereits das absolute Refoulement-Verbot oder andere EMRK-Rechte schützen, stellt sich weiters die Frage, inwiefern das Diskriminierungsverbot in solchen Fällen überhaupt relevant ist. Obwohl Diskriminierungsverbote in den internationalen, regionalen und nationalen Menschenrechtsvorschriften fest verankert sind, handelt es sich dabei nicht um ein absolutes Verbot. Darüber hinaus bieten viele der bestehenden Bestimmungen keinen unabhängigen Schutz gegen Diskriminierung als solche, sondern sollen andere bestehende Rechte ohne Diskriminierung zugänglich machen – so auch Artikel 14 EMRK.
Für die Anwendbarkeit dieses Diskriminierungsverbotes muss daher der Zusammenhang mit einem der Konventionsrechte im Einzelfall hergestellt werden. Wie bereits oben festgestellt, sind dabei verschiedene Konstellationen denkbar, u.a. Artikel 14 iVm Artikel 3 EMRK bei Fällen von Misshandlungen oder unzureichender Versorgung, Artikel 3 und 4 Protokoll Nr. 4 EMRK bei Fällen von Zurückweisung, Artikel 8 EMRK bei Familienzusammenführungen oder Datenschutzproblematiken, Artikel 5 EMRK bei Freiheitsentzug oder Artikel 13 EMRK bei Verfahrensfehlern und überlanger Verfahrensdauer.
Das Diskriminierungsverbot erweitert insofern den Schutzbereich dieser substantiellen Rechte, als für seine Anwendbarkeit nicht nötig ist, dass das jeweilige EMRK-Recht verletzt wird (siehe hier und hier). Der Sachverhalt muss lediglich in den Anwendungsbereich eines der EMRK-Rechte fallen. Darüber hinaus hat der EGMR Artikel 14 EMRK dahingehend ausgelegt, dass sein Schutz auch für Rechte, die Staaten über den Mindeststandard der EMRK hinaus gewähren, gilt.
Für die rechtliche Beurteilung ist es weiters notwendig, die rechtliche Situation zweier Einzelpersonen oder zumindest konkret definierter Gruppen zu vergleichen. Dies muss aus der Perspektive der Betroffenen geschehen, die eine Benachteiligung erfahren haben, die möglicherweise nicht nur ungerecht, sondern auch rechtswidrig ist.
Der Schutzbereich von Artikel 14 EMRK und Abgrenzung
Artikel 14 EMRK enthält eines der wichtigsten Diskriminierungsverbote in Europa. Eine weiterführende Diskussion über den Schutzbereich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union kann hier zwar keinen Platz finden, sie scheint aber auf den ersten Blick vielversprechende, weiterreichende Argumentationswege zu bieten. Insbesondere gewährt Artikel 20 der Charta ein Gleichheitsrecht unabhängig von der Diskriminierung aufgrund einzelner Charakteristika. Letzteres könnte z.B. hinsichtlich der Einschränkung des Schutzbereichs des Ratsbeschlusses auf Personen, die am 24. Februar 2022 in der Ukraine aufhältig waren, relevant sein. Artikel 21 der Charta gilt unabhängig von der Beeinträchtigung anderer darin garantierter Rechte. Weiters ist die Anwendbarkeit der Charta nicht auf die Zuständigkeit eines Staates eingeschränkt, sondern folgt der Umsetzung des Unionsrechts und den Handlungen von EU Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen.
Artikel 14 EMRK hingegen garantiert die Rechte und Freiheiten der EMRK
„(…) ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“
Aus diesem Wortlaut leitete der EGMR einen mehrgliedrigen Test für das Vorliegen einer Diskriminierung ab. Es ist zu prüfen, ob:
1. eine unterschiedliche Behandlung vorliegt
- von Personen, die sich in ähnlichen oder vergleichbaren Situationen befinden
- im Zusammenhang mit einem der Rechte der Konvention und
- die auf einem verbotenen Merkmal beruht; und
2. ob eine solche unterschiedliche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist
- zur Verfolgung eines rechtmäßigen Ziels
- in einer Weise, die in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Ziel steht.
In Teil II dieses Beitrags werden, in Hinblick auf die Frage der Diskriminierung im Rahmen von Artikel 14 EMRK, die Punkte der Vergleichbarkeit und Rechtfertigung aufgegriffen. Dadurch wird aufgezeigt, wie komplex sich der Vergleich von Massenzuströmen und die Analyse in Diskriminierungsfragen gestaltet, aber auch welches zusätzliche Potenzial darin besteht, Diskriminierungsschutz für Flüchtende gelten zu machen.