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Temporärer und internationaler Schutz – Ein Überblick am Beispiel von Schutzsuchenden aus der Ukraine

2. Mai 2022 in Beiträge
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Tags: Temporärer Schutz, Ukraine, Vertriebene, Vertriebenen-VO

Mag. Ronald Frühwirth

Mag. Ronald Frühwirth ist Rechtsanwalt in Wien und beschäftigt sich seit vielen Jahren anwaltlich und als Vortragender und Autor mit Fragen des Asylrechts.
Autorenfoto: © Marija Kanizaj


Bei den aus der Ukraine durch die Invasion Russlands vertriebenen Menschen handelt es sich um Vertriebene. Oder um Flüchtlinge? Oder um beides? Und schließt das eine das andere aus? Oder bedingt das eine das andere?

Internationaler Schutz

UNHCR spricht im Zusammenhang mit aus der Ukraine vor dem Krieg fliehenden Menschen von Flüchtlingen. Das liegt daran, dass UNHCR den Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention auch aus historischen Gründen weit interpretiert: Schließlich wurde die Konvention 1951 verabschiedet, um eine Lösung für die Millionen Kriegsvertriebenen in Europa zu finden. Nach dem Begriff der GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung aus fünf verschiedenen und abschließend aufgezählten Gründen – nämlich aus rassistischen Gründen, aus Gründen der Nationalität, der Religion, der politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe – außerhalb seines oder ihres Herkunftslandes befindet und dorthin nicht zurückkehren kann. Die drohende Verfolgungshandlung muss also einen Konnex zu einem der fünf Verfolgungsgründe finden. Enge Auslegungsvarianten des Flüchtlingsbegriffs verneinen diesen Konnex in Bezug auf Menschen, die vor den Folgen bewaffneter Konflikte fliehen. Sie verlangen ein Moment individualisierter Verfolgung und meinen, Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen, haben zwar Angst um Leib und Leben, aber sie werden nicht notwendigerweise aufgrund einer ihnen zukommenden oder ihnen zugeschriebenen Eigenschaft oder aufgrund eines von ihnen an den Tag gelegten oder ihnen zugeschriebenen Verhaltens verfolgt. UNHCR hat in seinen Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 12, die sich auf Anträge auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten und Gewalt beziehen, betont, dass zur Prüfung des kausalen Zusammenhangs zwischen der befürchteten Verfolgungshandlung und dem Vorliegen eines Verfolgungsgrundes oftmals ein Abstellen auf Antrieb, Motivation oder Absicht der Verfolger:innen notwendig sein wird, gerade diese aber in Situation bewaffneter Konflikte schwer zu ermitteln sein werden. Auch durch Strategie, Taktik, Methoden oder Mittel der Kriegsführung könne sich dieser nötige Kausalzusammenhang ergeben. So kann zB ein willkürlich scheinendes Verhalten der Verfolger:innen tatsächlich gegen Menschen bestimmter Gebiete gerichtet sein, weil ihnen etwa die Unterstützung einer Konfliktpartei unterstellt wird (vgl Rn 32 und 33 der Richtlinien).

Nicht in allen Fällen werden vor Krieg fliehende Menschen jedenfalls die (enge oder weite) Flüchtlingsdefinition erfüllen. Gefahr droht ihnen dennoch. Und zwar weil sie sich in einem Kriegsgebiet aufhalten. Es braucht daher noch weitere, subsidiäre Schutzmechanismen, um Menschen vor derartigen Gefahren Schutz zu bieten.

Zur Abdeckung dieser weiteren Fälle von Schutzbedarf sieht das Unionsrecht den „subsidiären Schutz“ vor. Diese Form von Schutz greift insbesondere gegenüber Personen, die fürchten müssten, im Falle einer Rückkehr in ihr Herkunftsland dort wegen des hohen Niveaus willkürlicher Gewalt im Rahmen einer bewaffneten Auseinandersetzung als Zivilpersonen ums Leben zu kommen oder verletzt zu werden (vgl Art 15 lit c Status-RL). Eine auf die einzelne Person Bezug nehmende, individualisierte Verfolgungsgefahr braucht es dazu nicht. Die Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit ist schon dadurch ausreichend „individuell“, dass das hohe Gewaltniveau jede Person allein durch ihre Anwesenheit im Konfliktgebiet erfassen kann. Auch diese Schutzform würde auf Personen, die aus der Ukraine fliehen müssen, Anwendung finden können.

Individualisiertes Verfahren

Zwar geht es bei dieser Form subsidiären Schutzes um die Beurteilung der allgemeinen Gefahrenlage in einer Region und daher gerade nicht um die Prüfung einer individuell drohenden Gefahr, dennoch muss für jede Person ein individuelles Verfahren durchgeführt werden; und muss zunächst zur Einleitung eines solchen Verfahrens ein Antrag gestellt werden. Dabei handelt es sich um den Antrag auf internationalen Schutz, der auf die Gewährung beider Schutzformen abzielt, zunächst auf Asyl und „subsidiär“ dazu, also im Falle, dass die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt ist, auf subsidiären Schutz. Liegen die Voraussetzungen für die eine oder die andere Schutzform vor, wird ein Status verliehen. Das Unionsrecht spricht bei Flüchtlingen vom „Status des bzw der Asylberechtigten“ und im Zusammenhang mit subsidiärem Schutz vom „Status des bzw der subsidiär Schutzberechtigten“, der schutzsuchenden Menschen nach Durchführung eines auf den einzelnen Menschen Bezug nehmenden Verfahrens bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen zuerkannt wird. An diesen Status knüpfen dann eine Reihe weiterer Rechtspositionen an. Mit dem Status sind Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Formen sozialer Absicherung, zu Bildungseinrichtungen, zu Möglichkeiten der Familienzusammenführung etc (vgl Kapitel VII der Status-RL) verbunden.

Temporärer Schutz

Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wurde nun eine weitere Form des Schutzes aktiviert. Die Rede ist vom vorübergehenden oder temporären Schutz. Dabei wird vom Konzept der individuellen Prüfung des Schutzbedarfs abgegangen. Es geht darum, einer großen Gruppe von schutzsuchenden Menschen, die aus Gebieten geflohen sind, in denen bewaffnete Konflikte oder dauernde Gewalt herrschen bzw die von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen bedroht sind, Schutz vor dieser Gewalt und diesen Menschenrechtsverletzungen zu gewähren, ohne in jedem einzelnen Fall den Schutzbedarf näher und individualisiert zu prüfen. Ein gewissermaßen pragmatisches Modell, um individualisierte Asylsysteme bei starker Beanspruchung nicht kollabieren zu lassen.

Die entsprechende Rechtsquelle ist die sogenannte „Temporärer Schutz – RL“, im Deutschen meist „Massenzustrom-RL“ genannt (RL 2001/55/EG); verabschiedet im Jahre 2001, unter dem Eindruck der kriegerischen Auseinandersetzungen am Balkan, aber bis heute, über 21 Jahre lang, nie angewendet. Die Richtlinie bedarf nämlich einer Aktivierung, um Wirkungen zu entfalten. Diese hat durch den Rat der Europäischen Union zu erfolgen. Der Rat muss gemäß Art 5 der RL mit Beschluss einer qualifizierten Mehrheit auf Vorschlag der Kommission feststellen, dass eine Situation von „Massenzustrom“ gegeben ist. Erst wenn diese Feststellung in Beschlussform vorliegt, können die weiteren Bestimmungen der Richtlinie Wirkung entfalten.

Und diese weiteren Bestimmungen besagen dann, dass bestimmte – im Ratsbeschluss näher zu beschreibende – Personengruppen schutzsuchender Menschen als Vertriebene nach dieser Richtlinie anzusehen sind und vorübergehenden Schutz erhalten sollen. Dies bedeutet, dass ihnen für einen Zeitraum von (vgl Art 4 der Richtlinie) bis zu drei Jahren im jeweiligen Mitgliedstaat ein Aufenthaltsrecht zukommt, dass sie dort (siehe Kapitel III der Richtlinie) ua Zugang zum Bildungssystem, zum Arbeitsmarkt haben, Sozialleistungen und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie Krankenversicherungsschutz erhalten und die Möglichkeit haben, mit ihren Familienangehörigen zusammengeführt zu werden.

Im Beschluss des Rates ist näher zu definieren, welche Personengruppen Schutz erhalten sollen (vgl Art 5 Abs 2 der RL). Nachdem es sich um Unionsrecht in Gestalt einer Richtlinie handelt, muss das Regelungswerk dann im nationalen Recht der Mitgliedstaaten umgesetzt werden. In Österreich findet sich eine entsprechende Rechtsgrundlage in § 62 AsylG 2005. Diese Bestimmung ermächtigt die Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates im Verordnungsweg zu definieren, welchen Personengruppen unter welchen Voraussetzungen ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht in Österreich gewährt wird. Zur näheren Erörterung der rechtlichen Situation, in der sich aus der Ukraine geflohene Menschen in Österreich derzeit befinden, sind also zu vorderst diese vier Rechtsquellen näher zu betrachten: die Massenzustrom-RL, der Beschluss des Rates, die gesetzliche Bestimmung des § 62 AsylG 2005 sowie die auf Basis dieser gesetzlichen Bestimmung erlassene Verordnung der Bundesregierung (BGBL II 92/2022).

Personengruppen, die unionsrechtlich als Vertriebene gelten

Im konkreten Fall des Kriegs in der Ukraine besagt der Ratsbeschluss vom 4. März 2022 Folgendes: Vorübergehender Schutz gilt (vgl Art 2 Abs 1 des Beschlusses)

– für ukrainische Staatsangehörige, die vor dem 24. Februar 2022 – dem Tag als die militärische Invasion der russischen Streitkräfte begann – ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten,

– für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die vor dem genannten Datum in der Ukraine internationalen Schutz, also Asyl oder subsidiären Schutz oder einen gleichwertigen nationalen Schutz genossen haben,

– und für Familienangehörige dieser beiden Personengruppen, wobei als Familienangehörige jedenfalls Eheleute, Lebenspartner:innen (bei Vorliegen einer dauerhaften Beziehung und „ausländerrechtlicher“ Gleichstellung mit verheirateten Partner:innen im jeweiligen nationalen Recht) und minderjährige ledige Kinder gelten, aber auch – wie es heißt – „andere enge Verwandte“, die mit der Bezugsperson im Familienverband lebten und von dieser abhängig waren

sofern sie jeweils am oder nach dem Stichtag „aus der Ukraine vertrieben“ wurden.

Auf diese Personengruppen müssen die Mitgliedstaaten den Beschluss anwenden und ihnen demnach vorübergehenden Schutz gewähren.

Das sind aber noch nicht alle vom Beschluss erfassten Personengruppen. Schutz können weiters Drittstaatsangehörige erhalten, die ein unbefristetes Aufenthaltsrecht in der Ukraine innehatten, sofern sie nicht die Möglichkeit haben, „sicher und dauerhaft“ in ihr Herkunftsland zurückzukehren (vgl Art 2 Abs 2 des Beschlusses). Hier besteht aber ein Spielraum für die Mitgliedstaaten: Sie können auch einen anderen – wie es heißt – „angemessenen“ Schutz nach nationalem Recht gewähren.

Und dann gibt es noch diejenigen Drittstaatsangehörigen, die sich nur sonst rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, die etwa als Studierende, Arbeitnehmer:innen oder Schutzsuchende während eines entsprechenden Schutzanerkennungs- bzw Schutzzuerkennungsverfahrens nur ein befristetes Aufenthaltsrecht inne hatten. Hier liegt es im Belieben der jeweiligen Mitgliedstaaten, ob sie den Beschluss angewendet wissen wollen oder nicht (vgl Art 2 Abs 3 des Beschlusses, wonach die Mitgliedstaaten diese Personengruppe vom temporären Schutz erfassen „können“).

Und auch über diese Personengruppen hinausgehend könnten Personen temporären Schutz in Österreich erhalten. Art 2 Abs 3 des Beschlusses nennt nämlich Personen mit einem nicht unbefristeten, aber rechtmäßigen Aufenthalt in der Ukraine nur beispielhaft, erlaubt den Mitgliedstaaten „insbesondere“ auch diese Personengruppe vom temporären Schutz zu erfassen, schränkt die Anwendbarkeit aber nicht weiter ein. Sprich, die Mitgliedstaaten haben einen nicht beschränkten Spielraum, wen sonst sie noch in das Regime temporären Schutzes aufgenommen wissen wollen.

Personengruppen, die in Österreich als Vertriebene gelten

In Österreich erfolgte eine restriktive Umsetzung des Ratsbeschlusses. Die in Art 2 Abs 1 des Ratsbeschlusses kategorisierten Personengruppen wurden nahezu wortident mit der dort verwendeten Formulierung auch in die Verordnung der Bundesregierung aufgenommen (vgl §§ 1 und 2 der Verordnung). Schon hier ergeben sich aber Auslegungsprobleme, insbesondere zum Bedeutungsgehalt des Wortes „vertrieben“. Die österreichische Asylbehörde legt dieses Wort iSv „verlassen“ aus, verlangt für die Anerkennung als Vertriebene: r demnach ein Verlassen der Ukraine erst nach diesem Stichtag. Wer aus der Ukraine also schon vor Beginn der Invasion durch die Armee Russlands geflohen ist, gilt nach derzeitiger Auffassung des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) nicht als Vertriebene:r iSv § 1 Z 1 und 2 der Verordnung.

Die übrigen im Ratsbeschluss angesprochenen Personengruppen sind nicht von der Verordnung der Bundesregierung und damit in Österreich nicht vom Konzept temporären Schutzes erfasst.

Dafür sind zwei weitere Personengruppen in Österreich umfasst: § 3 Abs 1 der Verordnung nennt ukrainische Staatsangehörige, die am 24. Februar 2022 über einen gültigen Aufenthaltstitel nach dem NAG verfügt haben, der mangels Erfüllung der Erteilungsvoraussetzungen nicht verlängert oder nun entzogen wurde. Auch sie haben nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des zuletzt innegehabten Aufenthaltstitels ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht.

Und gemäß § 3 Abs 2 der Verordnung gilt dies auch für Ukrainer:innen, die zum erwähnten Stichtag „rechtmäßig“ in Österreich aufhältig waren, „nach Ablauf ihres visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthaltes“.

Damit tun sich gleich ein paar Fragestellungen auf: Dem insofern recht unmissverständlichen Wortlaut im Verordnungstext zufolge gilt das vorübergehende Aufenthaltsrecht dann offenbar nicht für Ukrainer:innen, die sich am 24. Februar nicht rechtmäßig in Österreich aufgehalten haben, etwa weil ein zuvor innegehabter Aufenthaltstitel oder ein Aufenthaltsrecht nach dem NAG oder dem AsylG 2005 zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen war. Bei der Beurteilung der „Rechtmäßigkeit“ eines Aufenthalts orientiert sich die Asylbehörde allerdings nicht an § 31 FPG sondern führt diese Prüfung am Maßstab des Art 6 Schengener Grenzkodex durch. Deshalb sieht sie Personen nicht als vom Regelungsbereich der Vertriebenen-Verordnung umfasst, denen zum Stichtag ein Aufenthaltsrecht nach § 13 AsylG 2005 zukam, die sich also zu diesem Zeitpunkt als Asylwerber:innen im Bundesgebiet aufhielten; dies wiewohl ihr Aufenthalt fremdenpolizeirechtlich gemäß § 31 Abs 1 Z 4 FPG ganz klar rechtmäßig war. Auch sie gelten daher nach bisheriger Praxis also nicht als Vertriebene.

Außerdem sind Personen nicht vom vorübergehenden Schutz erfasst, die zwar von einer der genannten Kategorien umfasst wären, bei denen aber Ausschussgründe vorliegen. § 1 letzter Satz der Verordnung nimmt hier auf Art 28 der Richtlinie Bezug.

Vorübergehender Schutz vs internationaler Schutz

Aus der Ukraine stammenden Personen, die nun nicht vom vorübergehenden Schutz in Österreich umfasst sind, bleibt nur die Möglichkeit, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Die anderen denkbaren Varianten, etwa die Einleitung eines Verfahrens zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung abzuwarten, im Zuge dessen die Rechtsposition als Vertriebene:r als Vorfrage zu beurteilen wäre, oder gar die Einbringung eines Feststellungsantrags werden schon deshalb nicht praktikabel sein, weil während eines solchen Verfahrens dann kein Zugang zu Krankenversicherungsschutz, zu Bildungseinrichtungen, zum Arbeitsmarkt oder zu sozialer Absicherung gegeben ist. Da sich Personen, die vom Anwendungsbereich der Vertriebenen-Verordnung umfasst sind, gemäß § 31 Abs 1 Z 2 letzter Fall FPG rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, kommt die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs 1 Z 1 FPG nicht in Betracht. Trotz rechtmäßigen Aufenthalts könnte dann nur noch eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs 4 Z 1a FPG erlassen werden, sofern die dort angesprochenen Versagungsgründe (gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs 1 und 2 NAG) gegeben sind. Bei der Heranziehung beider Rückkehrentscheidungstatbestände ist daher ein Anwendungsbereich der Vertriebenen-Verordnung zu prüfen.

Auch Personen, denen vorübergehender Schutz zukommt, ist es weiter unbenommen, daneben auch internationalen Schutz zu beantragen. Ihre Chancen auf Gewährung dieses Schutzes stehen naturgemäß gut, geht doch das Konzept des vorübergehenden Schutzes davon aus, dass die als „Vertriebene“ anzusehenden Menschen in aller Regel Anspruch auf internationalen Schutz haben werden (siehe Art 2 Buchstabe c der RL).

Mitgliedstaaten haben naturgemäß ein Interesse daran, dass gerade dies nicht geschieht. Dass also Menschen, die vorübergehenden Schutz innehaben, nicht parallel dazu auch internationalen Schutz beantragen, weil ja gerade auch die Erhaltung der Funktionsfähigkeit von Asylsystemen klares Ziel der Aktivierung des vorübergehenden Schutzes ist (siehe schon die Begriffsdefinition des vorübergehenden Schutzes in Art 2 Buchstabe a der RL). Österreich verfolgt dabei den Weg, Anträge auf internationalen Schutz nicht zu bearbeiten, solange Betroffene über vorübergehenden Schutz verfügen. Die Entscheidungsfrist der Asylbehörde, der „Fristenlauf“, ist gemäß § 22 Abs 8 AsylG 2005 in diesen Fällen gehemmt. Es ist fraglich, ob diese Vorgehensweise mit der in Art 18 GRC normierten primärrechtlichen Verpflichtung in Einklang steht, das Recht auf Asyl und damit jedenfalls einen Zugang zu einem Verfahren zu gewährleisten, in dem die Anerkennung als Flüchtling geschehen kann. Zwar sind auch in Art 31 Abs 3 bis 6 der Verfahrens-RL (RL 2013/32/EU) Möglichkeiten genannt, die sonst geltende sechsmonatige Entscheidungsfrist für erstinstanzliche Asylentscheidungen zu verlängern. Allerspätestens nach 21 Monaten muss aber auch bei Vorliegen dieser – nun allenfalls gegebener (siehe Art 31 Abs 3 Buchstabe b oder Abs 4 leg cit) Voraussetzungen – die Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz vorliegen. Diesen verfahrensrechtlichen Mindeststandards genügt eine zeitlich unbeschränkte Hemmung der Entscheidungspflicht wohl nicht.

Die Temporärer-Schutz-RL selbst offeriert Mitgliedstaaten einen anderen Weg: Gemäß Art 19 Abs 1 der Richtlinie können sie vorsehen, dass die sich aus dem vorübergehenden Schutz ergebenden Rechte nicht mit der Position eines Asylwerbers bzw einer Asylwerberin kumuliert werden können. Damit hätten Betroffene zumindest ein Wahlrecht: Im Einzelfall könnten sie abklären, welche Rechtsposition die für sie günstigere darstellt.

Abkehr von Zuständigkeits- und Umverteilungsbestimmungen – freedom of choice

Bemerkenswert ist, dass der Rat nun im Fall der Ukraine keine besonderen Zuständigkeitsregelungen getroffen hat. Damit wird einer der bisherigen Eckpfeiler des europäischen Asylsystems verworfen. Die Bestimmungen der Dublin III-VO normieren gerade dies, sie sind im Verfahren über jeden Antrag auf internationalen Schutz anzuwenden und bestimmen den für die Prüfung des Antrags – allein – zuständigen Mitgliedstaat. Dieses Prinzip gilt nun hier, im Rahmen des vorübergehenden Schutzes für Vertriebene aus der Ukraine, nicht. Sie haben, wohl nicht zuletzt in Anbetracht dessen, dass Ukrainer:innen mit biometrischen Reisepässen der visumfreie Aufenthalt innerhalb der Mitgliedstaaten der Union gestattet ist (vgl den Hinweis darauf in Erwägungsgrund Nr. 6 des Ratsbeschlusses), die Möglichkeit, ihren Zufluchtsstaat innerhalb der Europäischen Union frei zu wählen. In Österreich etwa gilt der vorübergehende Schutz gemäß § 1 erster Satz der Verordnung der Bundesregierung ab „Einreise“ (in das Bundesgebiet). Außerdem gibt es keinen Umverteilungsmechanismus, derzeit gilt also die freie Wahl der vertriebenen Menschen, die von dem jeweiligen Mitgliedstaat anzuerkennen ist.

Mit der Aktivierung des vorübergehenden Schutzes stehen dabei auch diese Eckpfeiler des europäischen Asylsystems am Prüfstand. Es wird sich zeigen, ob es sie in dieser Form tatsächlich braucht. Und auch sonst werden sich in den kommenden Wochen und Monaten im Zusammenhang mit der Aktivierung der „Temporärer-Schutz-RL“ zahlreiche Rechtsprobleme stellen.


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