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EuGH: Urteile über Vorabentscheidungsersuchen können für Folgeanträge relevantes „neues Element“ oder „neuen Umstand“ darstellen


Entscheidungen des EuGH können einen für Folgeanträge relevanten neuen Umstand bzw. ein neues Element darstellen, selbst wenn sich das Urteil auf die Auslegung einer EU-Regelung, die bei Erlass einer Entscheidung über einen früheren Antrag bereits in Kraft war, beschränkt. Voraussetzung ist aber, dass die Entscheidung „erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt“, dass der Antragsteller Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes hat.

Hintergrund des deutschen Vorabentscheidungsersuchen war der Fall eines syrischen Staatsangehörigen, der bei seiner Anhörung im Bundesamt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF) angab, Syrien aus Angst verlassen zu haben, zum Militärdienst einberufen zu werden. Mit seiner Entscheidung erkannte ihm das BAMF 2017 subsidiären Schutz zu und lehnte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab. Begründet wurde die Ablehnung damit, dass nicht anzunehmen sei, dass der syrische Staat die Emigration des Klägers als oppositionelle Haltung gegen das Regime auffasse.

Am 15. Januar 2021 stellte er einen Folgeantrag. Diesen stützte er im Kern auf eine durch EZ gegen Bundesrepublik Deutschland vom 19. November 2020 (C-238/19) erwirkte „Änderung der Rechtslage“. Dieses Urteil enthält wichtige Klarstellungen im Hinblick auf Anträge aus Gründen des Militärdienstes, insbesondere eine günstigere Auslegung der Beweislastregelungen durch die aus der vom Gerichtshof festgestellten „starken Vermutung“ dafür, dass eine Verweigerung des Militärdienstes mit einem Verfolgungsgrund in Zusammenhang steht.

Das BAMF lehnte den Folgeantrag als unzulässig ab. Es begründete die Entscheidung damit, dass das obengenannte EuGH-Urteil nach nationalem und internationalem Recht nicht dazu führe, dass es diesen Antrag erneut prüfen müsse. Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob Klage beim Verwaltungsgericht Sigmaringen (Deutschland), dem vorlegenden Gericht.

Das vorlegende Gericht stellte fest, dass die Asylbehörde das Verfahren wiederaufgreifen müsse, falls sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert habe. In Bezug auf eine „Änderung der Rechtslage“ im Sinne dieser Bestimmungen stellte es fest, dass „gemäß der Auslegung durch die herrschende nationale Rechtsprechung nur eine Änderung der anwendbaren Bestimmungen grundsätzlich geeignet sei, unter diesen Begriff zu fallen, nicht jedoch eine gerichtliche Entscheidung […].“

Das vorlegende Gericht erfragte beim EuGH, ob diese Auslegung des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht vereinbar sei, da damit allgemein abgelehnt werde, eine Entscheidung des Gerichtshofs als geeignet anzusehen, die „Rechtslage“ zu ändern und so das Wiederaufgreifen des Verfahrens zu rechtfertigen, wenn ein Folgeantrag gestellt werde. In FMS u.a. gg Ungarn (C-924/19 PPU und C-925/19 PPU vom 14. Mai 2020) entschied der Gerichtshof zuvor, dass die Existenz eines EuGH-Urteils, welches die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht feststellt, sehr wohl einen neuen Umstand im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 darstellt.

Der EuGH stellt nun klar: „Aus dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 und insbesondere dem Gebrauch der Wendung „neue Umstände oder Erkenntnisse“ geht hervor, dass diese Bestimmung nicht nur auf eine Änderung der Sachlage hinsichtlich der persönlichen Situation eines Antragstellers oder der seines Herkunftslands abzielt, sondern auch auf neue rechtliche Umstände.“

Im besonderen Kontext der Richtlinie 2013/32, so der EuGH, kann ein Urteil des Gerichtshofs unter die Begriffe „neuer Umstand“ bzw. „neues Element“ im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie fallen. Dies gilt „unabhängig davon, ob dieses Urteil vor oder nach dem Erlass der Entscheidung über den früheren Antrag erlassen wurde oder ob in diesem Urteil die Unvereinbarkeit einer nationalen Bestimmung, auf die diese Entscheidung gestützt war, mit dem Unionsrecht festgestellt wird oder es sich auf die Auslegung des Unionsrechts […] beschränkt.“

Begründend führte der Gerichtshof aus, dass die praktische Wirksamkeit des in Art 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Rechts auf Anerkennung als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz, sowie „die Erga-omnes-Wirkung von Vorabentscheidungsurteilen sowie das Wesen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens und sein Ziel, die einheitliche Auslegung des Unionsrechts sicherzustellen“ andernfalls beeinträchtigt würde. Der Antragsteller muss im Rahmen des Folgeantrags auch nicht auf die Existenz eines Urteils, dass den neuen Umstand bzw. das Element darstellt, hinweisen.

Allerdings ist es „für die Zulässigkeit eines Folgeantrags gemäß Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 außerdem erforderlich, dass die neuen Elemente oder Erkenntnisse „erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist“. Wie aus dem 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 hervorgeht, ging der Gesetzgeber der Europäischen Union nämlich davon aus, dass es unverhältnismäßig wäre, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, jeden Folgeantrag in der Sache zu prüfen.“  

Das vorlegende Gericht hatte den EuGH zudem gefragt, ob Art. 46 Abs. 1 Buchst. a Ziff. ii der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass er es erlaubt oder sogar verlangt, dass das zuständige nationale Gericht, wenn es eine Entscheidung für nichtig erklärt, mit der ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt wird, selbst über diesen Antrag entscheiden kann, ohne dessen Prüfung an die Asylbehörde zurückverweisen zu müssen. Hierzu hielt der EuGH fest, dass Gerichte dazu befugt seien, selbst umfassend über einen Folgeantrag entscheiden zu können, ohne an die Asylbehörde zurückverweisen zu müssen, soweit der Mitgliedstaat sie dazu ermächtigt hat.

Bearbeitet von: Marie Charlotte Nocke (Ass.Iur.)


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