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(Fast) freie Hand der Mitgliedstaaten: EuGH zum fakultativen vorübergehenden Schutz nach der MassenzustromRL

14. Februar 2025 in Beiträge
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Tags: Asyl, EuGH, Massenzustrom-Richtlinie, Ukraine

Mag. Elias Faller, B.A.

Mag. Elias Faller, B.A., studierte Rechtswissenschaften und Translationswissenschaft an der Universität Graz und arbeitete u.a. am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien. Derzeit ist er als Universitätsassistent am Europäischen Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie der Universität Graz (UNI-ETC) beschäftigt.


In den verbundenen Rechtssachen C-244/24 (Kaduna) und C-290/24 (Abkez) war der EuGH erstmals mit der „MassenzustromRL“ befasst. Er urteilte, dass Mitgliedstaaten (MS) fakultativ gewährten vorübergehenden Schutz grundsätzlich jederzeit wieder entziehen dürfen – allerdings nur, sofern dies nicht den Zielen und der Wirksamkeit der MassenzustromRL sowie den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts zuwiderläuft. In diesem Blogbeitrag wird argumentiert, dass die Entscheidung trotz des engen Anwendungsbereichs relevante Auswirkungen auf zukünftige Fälle in Zusammenhang mit der Beendigung vorübergehenden Schutzes haben wird.

*Artikel, die ohne Bezeichnung angeführt werden, beziehen sich auf die MassenzustromRL.

Am 4. März 2022 wurde die RL 2001/55/EG („MassenzustromRL“) auf Grundlage des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 („Durchführungsbeschluss“) zum ersten Mal seit ihrem Bestehen aktiviert. Auslöser für die Aktivierung war der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, in dessen Folge Millionen Menschen aus der Ukraine vertrieben wurden und mehrheitlich in die EU flohen. Nach Art 2 Abs 1 des Durchführungsbeschlusses wird drei Gruppen von Vertriebenen vorübergehender Schutz erteilt (verpflichtender vorübergehender Schutz): ukrainischen Staatsangehörigen, die vor dem 24. Februar 2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten (lit a), Staatenlosen und Staatsangehörigen anderer Drittländer als der Ukraine, die vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine internationalen Schutz oder einen gleichwertigen nationalen Schutz genossen (lit b), sowie Familienangehörigen der in lit a und b genannten Personen (lit c). Art 2 Abs 3 des Beschlusses lässt es den MS auf Grundlage von Art 7 Abs 1 allerdings offen, vorübergehenden Schutz auch auf andere, nicht in Abs 1 des Durchführungsbeschlusses genannte Personen zu erstrecken (fakultativer vorübergehender Schutz). Nachdem der vorübergehende Schutz nach Art 4 Abs 1 automatisch um ein weiteres Jahr bis März 2024 verlängert worden war, erstreckte der Durchführungsbeschluss (EU) 2023/2409 („Verlängerungsbeschluss“) den vorübergehenden Schutz gem. Art 4 Abs 2 um ein weiteres Jahr bis März 2025 (in der Zwischenzeit wurde der Schutz bis März 2026 verlängert, eine Entscheidung, die de-facto über den Gesetzeswortlaut hinausgeht).

Im Zentrum des ersten Vorabentscheidungsverfahrens zur MassenzustromRL stand die Frage nach der vorzeitigen Beendigung des fakultativen vorübergehenden Schutzes. Der EuGH hatte zu klären, ob Mitgliedstaaten diesen Schutz noch vor Ende der im Durchführungsbeschluss festgelegten Schutzdauer aufheben dürfen. Obwohl die EuGH-Entscheidung keine grundlegend neuen Einsichten zur MassenzustromRL liefert, etabliert sie zentrale Grundsätze für den Entzug fakultativen vorübergehenden Schutzes, die für künftige Fälle maßgeblich sein werden. Darüber hinaus erläuterte der EuGH einige grundlegende Aspekte der Funktion und Wirkungsweise der MassenzustromRL.

Die Erteilung fakultativen vorübergehenden Schutzes

Die Vorlagen wurden von zwei niederländischen Gerichten eingebracht. Die Niederlande hatten von der Möglichkeit nach Art 7 Abs 1 Gebrauch gemacht, fakultativ den Kreis der Anspruchsberechtigten zu erweitern. Vorübergehender Schutz wurde, zumindest zu Beginn, nicht nur den von Art 2 Abs 1 des Durchführungsbeschlusses erfassten Gruppen, sondern auch jenen vertriebenen Drittstaatsangehörigen bzw. Staatenlosen gewährt, die in der Ukraine ein (bloß) vorübergehendes Aufenthaltsrecht hatten und maximal 90 Tage vor der Invasion die Ukraine verlassen hatten. Davon profitierten auch die Beschwerdeführer*innen im Kaduna- bzw. im Abkez-Fall, die in der Ukraine ein eben solches befristetes Aufenthaltsrecht genossen hatten und somit vom Anwendungsbereich des verpflichtenden vorübergehenden Schutzes nicht umfasst waren. Diese Erweiterung des persönlichen Schutzbereichs wurde allerdings von den niederländischen Behörden noch 2022 wieder rückgängig gemacht, was zur Folge hatte, dass einerseits keine neuen Titel an solche Vertriebene mehr erteilt und andererseits bestehende Titel nicht mehr verlängert wurden. Letzteres trat mit 04.03.2024 ein, dem Zeitpunkt also, bis zu dem der vorübergehende Schutz – für alle Vertriebenen aus der Ukraine – gem. Art 4 Abs 1 automatisch verlängert wurde. Der Beschwerdeführer im Kaduna-Fall sowie die Beschwerdeführer*innen im Abkez-Fall verloren somit mit März 2024 ihr Aufenthaltsrecht in den Niederlanden, obwohl der verpflichtende vorübergehende Schutz, d.h. die Gruppen betreffend, die in Art 2 Abs 1 des Durchführungsbeschluss genannt sind, zu diesem Zeitpunkt schon durch den Verlängerungsbeschluss verlängert worden war.

Die vorlegenden Gerichte ersuchten den EuGH im Wesentlichen um Auslegung zur Frage, ob diese Vorgehensweise – Beendigung des fakultativen Schutzes trotz Verlängerung des verpflichtenden Schutzes – mit der RL, insbesondere mit deren Art 4 und 7, in Einklang steht. Darüber hinaus bat das vorlegende Gericht im Kaduna-Fall den EuGH um eine Beurteilung der Frage, ob das Ausfolgen einer Rückkehrentscheidung an Personen, denen der fakultative vorübergehende Schutz entzogen wurde, vor dem Ende ihres rechtmäßigen Aufenthalts der RückführungsRL zuwiderlaufe.

Würdigung durch den EuGH

Der EuGH bejaht zunächst, dass die Erteilung des fakultativen Schutzes an Vertriebene mit befristetem Aufenthaltsrecht in der Ukraine durch die Niederlande den Vorgaben der MassenzustromRL entspricht und damit rechtmäßig ist (Rz 93-101). Eine Prüfung, ob es den Betroffenen möglich wäre, unter sicheren Bedingungen in die Ukraine zurückzukehren, ist nicht notwendig. Der EuGH betont sowohl den gänzlich freiwilligen Charakter von Art 7 als auch das freie Ermessen der MS bei der Definierung der Gruppen von Vertriebenen, die unter diesen fakultativen vorübergehenden Schutz fallen sollen, unter der Voraussetzung, dass diese, Art 7 entsprechend, aus denselben Gründen und aus derselben Region vertrieben wurden. Hinsichtlich der Dauer des fakultativen Schutzes stellt der EuGH zunächst fest, dass die Festlegung des Zeitpunkts dessen Inkrafttretens im freien Ermessen der MS liegt (Rz 110). Weiters, und damit ist bereits die entscheidende Frage berührt, gelte dasselbe für dessen Beendigung (Rz 111-123): Da die Entscheidung, fakultativen vorübergehenden Schutz zu gewähren, auf Freiwilligkeit beruht, muss auch die Entscheidung über dessen Beendigung im freien Ermessen der MS liegen. Die MS sind somit nicht dazu verpflichtet, die Dauer des fakultativen Schutzes an die Dauer des verpflichtenden Schutzes anzupassen, sei es an dessen erste, einjährige Dauer oder dessen Verlängerungen nach Art 4 Abs 1 oder 2 bzw. nach dem Durchführungs- oder Verlängerungsbeschluss. Natürlich darf fakultativer vorübergehender Schutz aber nur innerhalb des Zeitrahmens des verpflichtenden vorübergehenden Schutzes gewährt werden.

Nach dieser Klarstellung macht der EuGH allerdings deutlich, dass der Entzug fakultativen vorübergehenden Schutzes nicht den Zielen und der Wirksamkeit der MassenzustromRL zuwiderlaufen darf. Zudem müssen die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, wie insbesondere die Rechtssicherheit und der Schutz berechtigter Erwartungen, eingehalten werden (Rz 124-135). In diesem Zusammenhang hebt der EuGH das Ziel der MassenzustromRL hervor, einen effektiven Flüchtlingsschutz aufrechtzuerhalten. So dürfe der Entzug fakultativen vorübergehenden Schutzes nicht dazu führen, dass es den Betroffenen verwehrt werde, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Schließlich stellt der EuGH fest, dass das Ausstellen von Rückkehrentscheidungen gegenüber Vertriebenen, deren fakultativer vorübergehender Schutz zwar entzogen worden, aber zum Zeitpunkt der Rückkehrentscheidung noch aufrecht ist, nicht mit der RückführungsRL vereinbar ist, da ihr Anwendungsbereich nur unrechtmäßig im Staatsgebiet aufhältige Personen umfasst (Rz 136-158).

Unmittelbare Folgen für andere Mitgliedstaaten

In dieser Entscheidung befasste sich der EuGH nur mit einem spezifischen Aspekt der MassenzustromRL. Die Auswirkungen des Urteils betreffen somit vorrangig jene MS, die ihrerseits fakultativen vorübergehenden Schutz nach Art 2 Abs 3 des Durchführungsbeschlusses gewährt haben. Das betrifft Staaten wie Finnland, Spanien oder Portugal (für die Umsetzung in Österreich s. diesen Blogeintrag). Sowohl in Finnland als auch in Portugal liegt eine mit den Niederlanden vergleichbare Situation vor: In beiden MS wurde zunächst auch vertriebenen Drittstaatsangehörigen mit bloß befristetem Aufenthaltsrecht in der Ukraine vorübergehender Schutz (und damit fakultativer vorübergehender Schutz) gewährt. In Finnland wie in Portugal wurde der persönliche Schutzbereich des vorübergehenden Schutzes nachträglich auf Drittstaatsangehörige mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht eingeschränkt, wobei schon erteilte Schutzstati aufrecht bleiben bzw. verlängert werden. In Spanien wird demgegenüber weiterhin Vertriebenen mit befristetem Aufenthaltsrecht in der Ukraine vorübergehender Schutz gewährt.

Obwohl sich freilich nicht abschätzen lässt, ob und wie sich die Rechtslage in diesen MS ändern wird, steht jedenfalls fest, dass die Entscheidung des EuGH potentiell von hoher Relevanz für die dort aufhältigen betroffenen Drittstaatsangehörigen ist. Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass einer oder mehrere dieser Staaten zum selben Schluss wie die Niederlande gelangen und den fakultativen vorübergehenden Schutz beenden, zumal ein Ende des Kriegs in der Ukraine weiterhin nicht absehbar ist. Die Klärung der Bedingungen für einen Entzug des fakultativen Schutzes ist somit begrüßenswert. Das gilt umso mehr, da der EuGH betont, dass eine Aufhebung nicht willkürlich, sondern unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts sowie der Grundsätze der Funktionsweise der MassenzustromRL geschehen muss. Freilich darf dennoch nicht vergessen werden, dass der Anteil an Drittstaatsangehörigen unter den vorübergehend Schutzberechtigten ein sehr geringer ist.

Verhältnis zum Asylverfahren

Schwerer einzuschätzen ist demgegenüber, welche Auswirkungen das EuGH-Urteil auf ukrainische Staatsangehörige oder auf den vorübergehenden Schutz ganz allgemein hat. Zwar befasste sich der EuGH mit dem fakultativen vorübergehenden Schutz im Besonderen, aber enthält die Entscheidung zweifellos Passagen, die über diesen Spezialfall hinaus Bedeutung haben. Relevant sind insbesondere die Erläuterungen des EuGH über die Ziele und Wirkungsweise der MassenzustromRL im Allgemeinen (Rz 124-135). Bemerkenswert ist, dass der EuGH an dieser Stelle ausführliche Erläuterungen zum Verhältnis des vorübergehenden Schutzes zum Flüchtlingsschutz trifft. Obwohl diese im Zusammenhang mit der Beendigung des fakultativen vorübergehenden Schutzes getätigt werden, haben sie auch Geltung für Vertriebene, die verpflichtenden vorübergehenden Schutz genießen bzw. genossen haben. So betont der EuGH neben Ausführungen über den Zweck der MassenzustromRL, ein funktionierendes Asylsystem aufrechtzuerhalten, dass die MassenzustromRL die Zuerkennung von Flüchtlingsstatus unberührt lässt (Art 3) sowie das Recht von vorübergehend Schutzberechtigten gewährleistet, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen (Art 17). Dazu muss allerdings bemerkt werden, dass Art 17 Abs 2 den MS gleichzeitig die Möglichkeit einräumt, die Bearbeitung von Asylanträgen von vorübergehend Schutzberechtigten auszusetzen, wovon tatsächlich viele MS, einschließlich Österreich, Gebrauch gemacht haben. Diesbezüglich bekräftigt der EuGH aber ausdrücklich den Gesetzeswortlaut, wonach Asylverfahren, die während des vorübergehenden Schutzes „liegen gelassen“ wurden, jedenfalls nach dessen Beendigung, entsprechend den Vorgaben der VerfahrensRL, zu einem Abschluss gebracht werden müssen. Genauso, betont der EuGH in seinen Ausführungen, muss sichergestellt sein, dass Vertriebene nach Beendigung des (verpflichtenden ebenso wie fakultativen) vorübergehenden Schutzes in der Lage sind, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Letzteres könnte auch für die Ukrainer*innen, die in der EU vorübergehenden Schutz genießen, schlagend werden. Wenn also der Fall eintritt, dass der vorübergehende Schutz beendet wird bzw. ausläuft, so ist die Rechtslage klar – Anträge auf internationalen Schutz, seien sie noch während des vorübergehenden Schutzes gestellt oder erst nach dessen Beendigung, sind jedenfalls gründlich zu prüfen. Der Wegfall des vorübergehenden Schutzes hat also nicht automatisch genauso den Wegfall eines Asylgrundes zur Folge. Genauso dürfen, wie der EuGH in Bezug auf Art 6 der RückführungsRL ausführt, keine Rückkehrentscheidungen getroffen werden, solange sich Vertriebene bei Beendigung des vorübergehenden Schutzes noch rechtmäßig im MS aufhalten. Es ist erfreulich, dass der EuGH diese so wichtigen Punkte in seiner Entscheidung deutlich macht.

Fazit

Die erste Entscheidung des EuGH zur MassenzustromRL betraf zwar einen Sonderfall, traf aber dennoch einige bedeutsame Klarstellungen. Wenig überraschend steht es MS, die fakultativen vorübergehenden Schutz gewähren, frei, diesen jederzeit wieder zu entziehen – freie Hand bei der Erteilung impliziert auch freie Hand bei der Beendigung. Das freie Ermessen der MS ist, wie der EuGH hervorhebt, allerdings einigen gewichtigen Einschränkungen unterworfen: Der Entzug fakultativen Schutzes darf nicht in Widerspruch zu den Zielen und der Wirksamkeit der MassenzustromRL sowie den Grundsätzen des Unionsrechts stehen. Die Beendigung darf zu keiner Beeinträchtigung des Flüchtlingsschutzes führen, Vertriebene müssen in der Lage sein, Anträge auf internationalen Schutz zu stellen, welche auch behandelt werden müssen. Rückkehrentscheidungen dürfen nicht verfrüht erlassen werden. Das Urteil hat vorrangig Bedeutung für Vertriebene, denen in den MS fakultativer vorübergehender Schutz nach Art 2 Abs 3 des Durchführungsbeschlusses gewährt wurde. Allerdings geht seine Bedeutung zweifellos darüber hinaus. Der EuGH hat klargestellt, welche Bedingungen für eine Beendigung des vorübergehenden Schutzes überhaupt zu gelten haben – ein Szenario, das schon im März 2026 eintreten könnte.


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