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Dürfen’s denn das? Zur Bedeutung des offenen Auslebens der sexuellen Orientierung im Asylverfahren (Teil I)

9. November 2022 in Beiträge
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Tags: EuGH, LGBTIQ, sexuelle Orientierung, VfGH

Mag. Ralph Guth

Mag. Ralph Guth ist Rechtsberater beim Verein Queer Base in Wien. Queer Base beratet und vertritt seit 2016 LGBTIQ*-Geflüchtete in sozialen und rechtlichen Belangen.


BVwG Entscheidungen setzen regelmäßig Homosexualität mit Sex gleich und offenes Ausleben der eigenen homosexuellen Identität mit öffentlichen sexuellen Handlungen. Nach Ansicht der LGBTIQ* Beratungsstelle Queer Base lässt sich aus der Judikatur des VfGH bereits seit 2017 ableiten, dass dies falsch ist – und trotzdem ist kein Ende dieser Argumentation in Sicht.

Das Problem

Die Frage ist einfach: dürfen Behörden und Gerichte von LGBTIQ*-Asylwerbenden im Rahmen der Prognoseentscheidung erwarten, eine gewisse Zurückhaltung in ihrem Herkunftsland an den Tag zu legen oder gar Geheimhaltung ihrer sexuellen Orientierung, um einer Verfolgung zu entgehen?

Auf den ersten Blick ist auch die Antwort einfach: Nein, Behörden dürfen „vernünftigerweise“ nicht erwarten, dass jemand etwas geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt.  So der EuGH in seiner maßgeblichen Entscheidung vom 07.11.2013, C-199/12 bis C-201/12 (hier zentral RZ 76). Auf den zweiten Blick wird es dann aber kompliziert, denn zumindest in Österreich begann sofort eine Debatte darüber, was Zurückhaltung bzw. offenes Ausleben der sexuellen Orientierung genau bedeutet. So wurde dies eine Kernfrage vieler Verfahren von LGBTIQ*-Asylwerbenden, und damit unserer Klient:innen bei Queer Base. Ich möchte in diesem Beitrag den rechtlichen Kampf um den Begriff des „offenen Auslebens“ nachzeichnen, die zentralen VfGH-Entscheidungen dazu analysieren und zwei erfreuliche rezente Erkenntnisse vorstellen.

Sexuelle Orientierung ausdrücken

Es beginnt mit dem VfGH-Erkenntnis E 3074/2016 vom 21. Juni 2017. Im Ausgangsfall hatte das BVwG im Kern argumentiert, dass der glaubhaft schwule Mann in der Vergangenheit seine sexuelle Orientierung im Irak ohne maßgebliche Einschränkungen leben konnte und er dies bei einer Rückkehr wieder tun könnte. Allerdings hatte der Mann auch vorgebracht, dass er, wie alle anderen Homosexuellen, seine Beziehungen aus ständiger Angst nur im Geheimen führen konnte. Auch die Länderberichte zeichneten ein Bild der Angst, gewaltsamen Angriffen und Ehrenmorden bei gleichzeitiger Polizeigewalt. Der VfGH begründet die Behebung daher vor allem damit, dass das BVwG mit seiner Argumentation sowohl dem Vorbringen des Mannes widerspricht als auch auch den Länderberichten. Überdies würde aber die Einschätzung, er könne zur bisherigen Art seines Auslebens der Homosexualität zurückkehren, dazu führen, dass der er gezwungen wäre, seine Sexualität (wieder) im Geheimen zu leben – was mit dem genannten Urteil des EuGH nicht vereinbar ist.

Bemerkenswert ist dabei, dass der VfGH an der Stelle des „Auslebens der sexuellen Orientierung“ (RZ 26) einerseits den EuGH etwas anders wiedergibt und von „Leben der sexuellen Ausrichtung“ spricht, und außerdem die französische Version dieser Wortfolge im EuGH Urteil in Klammer zitiert, nämlich: „l’expression de son orientation sexuelle“. Meiner Meinung nach, wollte der VfGH damit wohl klarstellen, dass die deutsche Version des „Auslebens“ zu kurz greift und eben die „Ausdrucksweise“ oder das „Leben“ der eigenen sexuellen Orientierung nicht geheim gehalten werden kann und darf.

Im nächsten Erkenntnis E 291/2019 vom 11. Juni 2019, fand der VfGH seine eigene Wendung für diesen Gedanken: „Es widerspricht der Anerkennung eines für die Identität so bedeutsamen Merkmals, auf das zu verzichten die Betroffenen nicht gezwungen werden dürfen, wenn von den Mitgliedern einer sozialen Gruppe, die die gleiche sexuelle Ausrichtung haben, verlangt wird, dass sie diese Ausrichtung geheim hält“ (RZ 26). Nicht unbedingt ein klarer Satz. Es brauchte in demselben Fall ein zweites Einschreiten des VfGH: das zentrale (und wunderschöne) E 4470/2019 vom 25. Februar 2020.

Privilegierte Homosexuelle

Denn das BVwG entschied mit einem völlig neuen Argument wieder negativ: im Irak würde auch von Heterosexuellen der Verzicht auf als „ungebührlich angesehene Intimitäten“ erwartet werden; würde man nun von Homosexuellen keinerlei Zurückhaltung im öffentlichen Raum erwarten dürfen, wäre das eine „Privilegierung gegenüber Heterosexuellen“ und wäre auch verfehlt für „andere, sittliche Maßstäbe praktizierende [Gesellschaften], wie die europäische“. Das BVwG geht also offenbar davon aus, dass Homosexualität nichts anderes ist als homosexuelle Handlungen, und offenes Ausleben Sex in der Öffentlichkeit bedeutet, und das eben unsittlich (selbst für Europa) ist. Die Antwort des VfGH darauf ist eindeutig: zuerst hält er unmittelbar nach der Zusammenfassung dieser Argumentation des BVwG fest, dass diese Ausführungen homosexuelle Personen diskriminieren (nicht nur den Beschwerdeführer, sondern allgemein Homosexuelle!), am Ende stellt der VfGH noch in den Raum, dass das BVwG Wohl auch seine Verpflichtung zur Herstellung der Rechtsanschauung des  Höchstgerichts gem. § 87 Abs 2 VfGG verletzt hat.

Inhaltlich verweist er nochmal auf das Urteil des EuGH und dort auf die französische Wortfolge und hält (fast verzweifelt) fest, dass daraus doch „unmittelbar einsichtig und offenkundig“ wird, was gemeint ist: es muss möglich sein, auch in der Öffentlichkeit zur eigenen sexuellen Orientierung zu stehen und sich zu entsprechenden Beziehungen zu bekennen, ohne irgendwie gezwungen zu werden, die sexuelle Orientierung geheim halten zu müssen (RZ 33).

Damit könnte man der Meinung sein, dass zum „offenen (Aus-)Leben“ alles gesagt war. Dem ist leider nicht so.

Es muss möglich sein

In zwei rezenten Entscheidungen findet der VfGH nun (gezwungenermaßen) nochmals klarere Worte und muss auch nicht mehr auf das Französisch des EuGH zurückgreifen (E 4365/2021 und E 2406/2021 beide vom 19. September 2022). In beiden Ausgangsfällen wurde für den Irak bzw. Algerien wieder das Argument rigider Moralvorstellungen im Heimatland bemüht, denen alle unterworfen wären – eben auch Homo- oder Bisexuelle. In einem der beiden Fälle kam außerdem hinzu, dass die Person vorbrachte, auch in Österreich eher zurückhaltend zu leben. Daraus machte das BVwG das zusätzliche Argument, dass ihm daher auch in Algerien ein dezentes Ausleben möglich wäre und er damit keiner Gefahr der Verfolgung ausgesetzt sei. Die Antwort des VfGH ist in aller Prägnanz: „Relevant ist nämlich nicht, ob der BF seine sexuelle Orientierung in irgendeiner Form in seinem Heimatstaat ausleben kann; ebenso wenig kommt es darauf an, wie der BF seine Homosexualität in Österreich auslebt und ob auch unverheiratete Paare von ähnlich ‚rigiden Moralvorstellungen‘ betroffen sind. Ausschlaggebend ist vielmehr einzig, ob der BF seine sexuelle Orientierung in Algerien ausleben kann, ohne sie geheim halten zu müssen“ (RZ 17, E 4365/2021 vom 19. September 2022). Ebenso im aktuellen Erkenntnis zum Irak nochmals, dass es dabei nicht um irgendeine ausgelebte Sexualität geht, sondern „vielmehr um das Bekenntnis zur eigenen sexuellen Ausrichtung, dessen Verzicht von niemandem verlangt werden darf“. (RZ 26,  E 2406/2021 vom 19. September 2022).

Damit ist meines Erachtens nun abschließend klargestellt, was der EuGH schon vor fast zehn Jahren ausgesprochen hat: es muss LGBTIQ* Personen möglich sein in ihrem Herkunftsland auch öffentlich zu sich zu stehen, sie müssen sich also schlicht outen können, ohne sich dadurch der Gefahr von Verfolgung auszusetzen. Und zwar in jeder erdenklichen Situation: Es darf nicht erwartet werden, dass etwa eine unverheiratete bisexuelle Frau gegenüber einem behandelnden Arzt ausweichend antwortet, wenn dieser fragt, ob er ihren Ehemann kontaktieren soll. Es muss ihr in dieses Situation möglich sein, sich zu ihrer Partnerin zu bekennen. Es muss einem jungen schwulen Mann möglich sein, seiner Familie die Wahrheit zu sagen, warum er es ablehnt, eine Frau zu heiraten. Ein homosexuelles Paar muss zu sich stehen können und einer Vermieterin gegenüber offen als Paar auftreten dürfen. Ist dies nicht möglich, und bringen diese beispielhaften Situationen LGBTIQ* Personen in asylrelevante Gefahren, dann haben sie auch ein Recht auf internationalen Schutz. Es bleibt zu hoffen, dass die klaren Worte des VfGH endlich alle Entscheidungsträger:innen in Asylverfahren erreichen.


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