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Neues aus Straßburg zur Familienzusammenführung: Bei Interessenabwägung müssen auch die Gründe für einen Sozialhilfebezug berücksichtigt werden

28. August 2023 in Beiträge
4 Kommentare

Tags: Asylberechtigte, Asylgesetz, EGMR, Familienleben, Familienzusammenführung, Interessenabwägung, materielle Voraussetzungen, Sozialleistungen, subsidiärer Schutz

DDr. Philip Czech

DDr. Philip Czech ist Senior Scientist an der Universität Salzburg, Österreichisches Institut für Menschenrechte. Er forscht und lehrt zum internationalen und innerstaatlichen Schutz der Grund- und Menschenrechte, dem Asyl- und Migrationsrecht sowie dem Strafvollzugsrecht. Er ist Herausgeber des Newsletter Menschenrechte und Co-editor des European Yearbook on Human Rights.


Nach der bisherigen österreichischen Praxis kommt es bei der Abweisung von Anträgen auf Familienzusammenführung zu Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten wegen mangelnder Selbsterhaltungsfähigkeit nicht auf die Gründe für den Bezug von Sozialleistungen an. Angesichts des am 4.7.2023 ergangenen Urteils des EGMR in der Sache B. F. ua gg die Schweiz kann diese Praxis nicht beibehalten werden.

Zur Schweizer Rechtslage

Der EGMR entschied über vier Beschwerden von Flüchtlingen, die in der Schweiz nur „vorläufig aufgenommen“ worden waren. Nach Art 83 des schweizerischen Ausländer- und Integrationsgesetzes ist für Flüchtlinge, die erst durch ihre Ausreise oder wegen ihres Verhaltens nach derselben Flüchtlinge wurden, anstelle von Asyl die sogenannte vorläufige Aufnahme vorgesehen. Dieser Status ist mit einer wesentlich schlechteren Rechtsstellung verbunden als jener des Asylberechtigten. Insbesondere haben vorläufig Aufgenommene kein Recht auf Familiennachzug. Dieser liegt nicht nur im Ermessen der Behörde, sondern ist auch erst nach drei Jahren möglich und hängt von der Erfüllung bestimmter materieller Voraussetzungen ab. So darf die Familie nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein, außerdem muss eine bedarfsgerechte Wohnung nachgewiesen werden.

Diese Rechtslage ist aus Sicht des Diskriminierungsverbots und der Vorgaben der GFK problematisch, weil sie innerhalb der Gruppe der Konventionsflüchtlinge zwei Gruppen mit unterschiedlichen Rechten schafft. Trotz entsprechender Kritik seitens des Menschenrechtskommissars des Europarats, des UN-Kinderrechtsausschusses und des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung sowie konkreter Reformvorschläge etwa der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wurde diese Rechtslage bislang nicht angepasst. Angesichts dieses Urteils des EGMR ist die schweizerische Position jedoch zumindest im Hinblick auf den Familiennachzug nicht haltbar.

Die Anlassfälle

Die vier in der Schweiz als Flüchtlinge vorläufig aufgenommenen Beschwerdeführer*innen, die aus Eritrea bzw China stammen, hatten ihre Kinder bzw Ehepartnerin zurücklassen müssen. Diese leben im Sudan, in Indien bzw in einem Flüchtlingslager in Äthiopien. Sie alle beantragten deren Nachzug, scheiterten jedoch an der fehlenden finanziellen Unabhängigkeit, da sie alle Sozialhilfe beziehen und das Staatssekretariat für Migration (SEM) auch im Fall des Familiennachzugs von einer Sozialhilfeabhängigkeit ausging. In einigen Fällen war auch die dreijährige Wartefrist noch nicht abgelaufen. Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) bestätigte diese Entscheidungen.

Die fehlende Selbsterhaltungsfähigkeit hatte verschiedene Gründe. Eine der Beschwerdeführerinnen kann aus gesundheitlichen Gründen keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, was von den schweizerischen Behörden anerkannt wurde. Die zweite Beschwerdeführerin arbeitet halbtags und erzielt damit kein hohes Einkommen. Da sie alleinerziehende Mutter von drei Kindern ist (der Antrag auf Familiennachzug bezieht sich auf die vierte Tochter), kann sie den Umfang ihrer Berufstätigkeit in absehbarer Zeit nicht ausweiten und ist auf Sozialhilfe angewiesen. Der aus China stammende Beschwerdeführer ist zwar berufstätig, erzielt damit aber kein Einkommen, das für den Unterhalt einer vierköpfigen Familie ausreichen würde. Die vierte Beschwerdeführerin leidet ebenfalls an gesundheitlichen Problemen, ist jedoch nicht gänzlich arbeitsunfähig. Das SEM befasste sich eingehend damit, in welchem Ausmaß sie berufstätig sein könnte und kam zum Schluss, dass sie nicht alles ihr Zumutbare unternommen hatte, um ihre Sozialhilfeabhängigkeit zu reduzieren.

Feststellungen des EGMR zum Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten

Da sich der Straßburger Gerichtshof erstmals mit der finanziellen Unabhängigkeit als Voraussetzung für den Familiennachzug und mit der – in keinem anderen Land außer der Schweiz geltenden – Differenzierung zwischen verschiedenen Gruppen von Flüchtlingen iSd GFK befasste, stellte er zunächst einige grundlegende Überlegungen zum Ermessensspielraum an, der den Mitgliedstaaten bei der Regelung der Familienzusammenführung zukommt.

Dass es einem weitgehenden Konsens auf internationaler und europäischer Ebene entspricht, Konventionsflüchtlinge bei der Familienzusammenführung zu begünstigen und nicht danach zu differenzieren, ob sie ihr Herkunftsland aus Furcht vor Verfolgung verlassen haben oder die Fluchtgründe erst nachträglich entstanden sind, verringert nach Ansicht des EGMR den Ermessensspielraum (B. F. ua gg die Schweiz, Rz 98). Dieser ist demnach insbesondere kleiner als bei subsidiär Schutzberechtigten, die auch nach dem Unionsrecht schlechter gestellt sind als Asylberechtigte (vgl M.A. gg Dänemark, Rz 151 ff). Als weiteren Faktor berücksichtigte der Gerichtshof die Qualität der parlamentarischen und gerichtlichen Entscheidungen. Dazu bemerkte er, dass die von der Regierung vorgebrachte Begründung, vorläufig aufgenommene Flüchtlinge würden sich hinsichtlich der Aufenthaltsdauer von Asylberechtigten unterscheiden, einer empirischen Überprüfung nicht standhalten könne. Wie mehrere Berichte – unter anderem des Schweizerischen Bundesrats und des Menschenrechtskommissars des Europarats (Rz 103) – darlegten, bleiben rund 90 % aller vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge langfristig in der Schweiz. Für einen gewissen Ermessensspielraum spricht hingegen, dass es auch für Flüchtlinge iSd GFK kein bedingungsloses Recht auf Familiennachzug gibt und es nicht völlig unsachlich erscheint, die Gründe zu berücksichtigen, die zu einem Verlassen des Herkunftslands führten (B. F. ua gg die Schweiz, Rz 103).

Während der EGMR somit die Voraussetzung der Sozialhilfeunabhängigkeit als solche nicht beanstandete, betonte er doch die unüberwindbaren Hindernisse, die einem Familienleben im Herkunftsland auch dann entgegenstehen, wenn die Fluchtgründe erst sur place entstanden sind. Ein fairer Ausgleich zwischen dem Interesse der betroffenen Personen an einer Wiederaufnahme ihres Familienlebens und dem Interesse der Allgemeinheit an der Einwanderungskontrolle und der Vermeidung übermäßiger Belastungen des Sozialsystems verlangt demnach eine umfassende und individuelle Interessenabwägung, bei der die Voraussetzung der finanziellen Selbsterhaltungsfähigkeit mit der gebotenen Flexibilität angewendet wird (B. F. ua gg die Schweiz, Rz 105). Der Gerichtshof begründete diese Notwendigkeit mit der Gefahr einer dauerhaften Trennung der Familie. Vor allem dürfe von Flüchtlingen, auch wenn die Verfolgungsgefahr erst sur place entstanden ist, nichts Unmögliches verlangt werden, bevor der Familiennachzug gewährt wird. Das wäre etwa dann der Fall, wenn die Behörden die Voraussetzung der Sozialhilfeunabhängigkeit unflexibel anwenden und keine Rücksicht auf die Gründe für die Nichterfüllung der Einkommenserfordernisse nehmen.

Zu den einzelnen Beschwerdeführer*innen

Rasch geklärt war in allen vier Fällen, dass ein Zusammenleben nur in der Schweiz möglich war, das Familienleben bereits vor der Flucht bestanden hatte und die Trennung bereits seit vielen Jahren andauerte. Alle diese Faktoren sprachen für eine positive Verpflichtung der Schweiz, den Kindern bzw der Ehegattin den Nachzug zu gewähren. Dasselbe gilt für das eingehend geprüfte Kindeswohl. Vor allem die Tatsache, dass in zwei Fällen der zweite Elternteil vermisst oder tot war und die Kinder in einem Drittstaat (Sudan bzw Äthiopien) auf sich alleine gestellt waren, verlieh ihrem Interesse an einer Einreise in die Schweiz erhebliches Gewicht, obwohl die Mädchen zum Zeitpunkt der innerstaatlichen Entscheidung über den Nachzug bereits 16 bzw beinahe 18 Jahre alt waren (B. F. ua gg die Schweiz, Rz 120). Selbst die Tatsache, dass eine der Betroffenen im Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerde an den EGMR bereits volljährig war, änderte für diesen nichts an ihrem Recht auf Familiennachzug zu ihrer Mutter.

Die entscheidende Frage war somit, ob die voraussichtliche finanzielle Belastung der Schweiz durch die zu erwartende Sozialhilfeabhängigkeit ein ausreichend schwerwiegender Grund für die Verweigerung des Familiennachzugs war. Dabei konzentrierte sich der EGMR darauf, ob diese Voraussetzung mit ausreichender Flexibilität angewendet worden war. Dies war indes nur im Hinblick auf jene Beschwerdeführerin der Fall, die nie erwerbstätig war und sich auf gesundheitliche Probleme berufen hatte. Hier unternahm das BVGer eine eingehende Beurteilung ihres Gesundheitszustands und kam zum nachvollziehbaren Schluss, dass es ihr durchaus möglich gewesen wäre, zumindest einer Teilzeitbeschäftigung nachzugehen. Da sie aber überhaupt keine Schritte in diese Richtung gesetzt hatte, konnte ihr entgegen gehalten werden, nicht alle zumutbaren Anstrengungen zur Reduktion der Sozialhilfeabhängigkeit gesetzt zu haben. In den übrigen drei Fällen hingegen hatten das SEM und das BVGer nicht die gebotene Flexibilität an den Tag gelegt. Insbesondere waren die Bemühungen der Beschwerdeführer*innen um die Erzielung eines ausreichenden Einkommens bzw die in der Gesundheitsbeeinträchtigung bzw der nötigen Betreuung von drei Kindern als alleinerziehende Mutter begründeten Hindernisse nicht ausreichend gewürdigt worden. Im Ergebnis stellte der EGMR daher im Hinblick auf diese drei Beschwerdeführer*innen eine Verletzung von Art 8 EMRK fest.

Konsequenzen für Österreich

Da die schweizerische Rechtslage zum Familiennachzug zu vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen einzigartig ist, lassen sich die Feststellungen des EGMR nicht ohne Weiteres auf die Situation in Österreich und anderen EU-Staaten übertragen. Dennoch sind einige der Eckpunkte des Urteils auch für das österreichische Recht von Bedeutung. Denn dieses kennt in § 60 Abs 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 ganz ähnliche materielle Voraussetzungen für die Familienzusammenführung zu Asylberechtigten, die den Antrag später als drei Monate nach der Statuszuerkennung stellen (§ 35 Abs 1 letzter Satz AsylG 2005 in Umsetzung von Art 12 Abs 1 3. Unterabsatz RL 2003/86/EG), und zu subsidiär Schutzberechtigten (§ 35 Abs 2 AsylG 2005).

Neben dem Nachweis einer ortsüblichen Wohnung und einer Krankenversicherung ist insbesondere erforderlich, dass der Aufenthalt „zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft“ führen wird. Nach § 35 Abs 4 Z 3 AsylG 2005 darf das BFA im Fall eines Antrags auf Erteilung eines Visums zum Zweck eines Familienverfahrens in Österreich nur dann eine positive Mitteilung erteilen, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind. Hier gilt allerdings die Ausnahme, dass davon abzusehen ist, wenn die Familienzusammenführung zur Wahrung des Art 8 EMRK geboten ist. Und genau hier entfaltet sich die Relevanz des vorliegenden Urteils. Denn anders als in der Schweiz erlaubt – und gebietet (!) – das österreichische Recht die Erteilung eines Visums und die Gewährung des Familiennachzugs trotz einer zu erwartenden Abhängigkeit von Sozialleistungen, wenn dies zur Aufrechterhaltung (bzw zur Wiederaufnahme) des Familienlebens durch Art 8 EMRK geboten ist. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung nimmt allerdings nach der bisherigen Rechtsprechung keine Rücksicht auf die Gründe für die mangelnde Selbsterhaltungsfähigkeit. Wie der VwGH in st Rsp ausdrücklich ausführt, „sind die Gründe für die Nichterfüllung der Voraussetzungen des § 60 Abs 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 für die Beurteilung, ob […] die Erteilung eines Einreisetitels […] zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 EMRK geboten ist, nicht wesentlich und daher im Rahmen der Interessenabwägung nach Art 8 EMRK nicht zu berücksichtigen“ (VwGH 31.5.2021, Ra 2020/01/0284, Rz 39; VwGH 2.9.2021, Ra 2020/19/0240, Rz 16). Somit verlangt die Rsp bislang eine zweistufige Prüfung: Zunächst ist zu ermitteln, ob die materiellen Voraussetzungen (Unterkunft, Krankenversicherung, Selbsterhaltungsfähigkeit) erfüllt sind, wobei die Frage der anzunehmenden finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft anhand der zu § 11 Abs 5 NAG entwickelten Kriterien beurteilt wird (vgl VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0105, Rz 84 ff). Eine nur geringfügige Unterschreitung der Richtsätze ist nur insofern relevant, als sie der Stattgebung eines Antrags nicht entgegenstehen darf, wenn trotzdem von einer Sicherung des Lebensunterhalts auszugehen ist (vgl VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0105, Rz 84; VwGH 20.5.2021, Ra 2017/22/0083 mwN). Nur wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 nicht erfüllt sind, ist in einem zweiten Schritt eine Interessenabwägung gemäß Art 8 EMRK vorzunehmen. Maßgeblich sind dabei vor allem die Gründe für die Trennung, die Intensität des Familienlebens vor der Ausreise und die Aufrechterhaltung von Kontakten nach dieser, das Kindeswohl (einschließlich Alter und Situation im Aufenthaltsstaat) sowie gegebenenfalls schwerwiegende öffentliche Interessen wie sie etwa durch eine bewusste Umgehung des Asyl- und Fremdenrechts oder eine Straffälligkeit begründet werden können. Hingegen sind weder das Ausmaß der zu erwartenden finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft noch die Gründe für diese zu berücksichtigen.

Eben diese Rechtsprechungslinie lässt sich angesichts des Urteils B. F. ua gg die Schweiz nicht aufrecht erhalten. In Zukunft werden BFA und BVwG auch die individuellen Gründe für die fehlende finanzielle Eigenständigkeit in Betracht ziehen müssen. Davon profitieren könnten vor allem Personen, die ihren eigenen Lebensunterhalt und jenen ihrer nachzugswilligen Angehörigen nicht bestreiten können, obwohl sie alles Zumutbare unternommen haben, um den Bezug von Sozialleistungen möglichst gering zu halten. Insbesondere eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder eine Beeinträchtigung, aber auch Kinderbetreuungspflichten müssen somit bei der Interessenabwägung berücksichtigt werden. Eine Ablehnung der Familienzusammenführung kann gerade in solchen Fällen nicht länger mit der schlichten Nichterfüllung der materiellen Voraussetzungen des § 60 Abs 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 begründet werden.


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Kommentare

4 thoughts on "Neues aus Straßburg zur Familienzusammenführung: Bei Interessenabwägung müssen auch die Gründe für einen Sozialhilfebezug berücksichtigt werden"

  1. Sabine sagt:

    Ich bedaure, dass ich insoweit widersprechen muss, als die Meinung vertreten wird, die angeführten Umstände würden nach der bisherigen Rechtsprechung des VwGH keine Rolle spielen.
    So hat der VwGH etwa (schon) im Jahr 2009 (dort zudem unter Hinweis auf Vorjudikatur) ausgeführt (dort zur nach § 11 Abs. 3 NAG vorzunehmenden Interessenabwägung, die aber inhaltlich gleichgelagert zu hier angesprochenen vorzunehmen ist):
    „Die belangte Behörde hat ausgeführt, dass im Rahmen der Interessenabwägung auf Grund des mangelnden Nachweises über die Sicherung des Lebensunterhaltes der Beschwerdeführerin ’nach Aufbrauch ihres Sparguthabens‘ den öffentlichen Interessen gegenüber den privaten Interessen ‚absolute Priorität‘ eingeräumt werden müsse. Damit hat sie im Ergebnis die Ansicht vertreten, dass bei Vorliegen des Versagungsgrundes der mangelnden Unterhaltsmittel gemäß § 11 Abs. 2 Z. 4 NAG den öffentlichen Interessen jedenfalls ein so großes Gewicht zukomme, dass die Abwägung unabhängig vom Gewicht der persönlichen Interessen des Fremden immer zu dessen Lasten ausgehen müsse.
    Diese Ansicht wird vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilt, würde doch im Fall des Fehlens einer Erteilungsvoraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 NAG die vom Gesetzgeber gemäß § 11 Abs. 3 leg. cit. für alle Fälle des Abs. 2 – somit auch bei Fehlen des Nachweises einer ausreichenden Krankenversicherung – getroffene Anordnung einer Abwägung ins Leere gehen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. März 2007, 2006/18/0032).“
    Die Ansicht, dass die Rechtsprechung des VwGH nicht im Einklang mit jener des EGMR stünde, teile ich nicht. Ob in einem konkreten Fall die oben angesprochenen Gründe der Erteilung eines Einreise- oder Aufenthaltstitels nicht entgegenstehen, ist letztlich anhand aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls in einer Gesamtbetrachtung zu beurteilen.
    Dass gerade dann, wenn eine Familienzusammenführung nur in Österreich möglich ist (eben etwa im Fall der Familienzusammenführung zu einem Asylberechtigten), eine solche nur in bestimmten Konstellationen verweigert werden darf (etwa Straffälligkeit oder von Anfang an beabsichtigte Umgehung der Einwanderungsvorschriften), ist gleichfalls ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Gerade in einem solchen Fall spielt die Frage der Einkommensverhältnisse (bei der Interessenabwägung) in der Regel keine Rolle (siehe etwa VwGH Ra 2020/14/0303: „Eine Trennung von Familienangehörigen, mit denen ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsland nicht zumutbar ist, wird in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dann für gerechtfertigt erachtet, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie dies insbesondere bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regeln über den Familiennachzug der Fall ist.“).

  2. Damian sagt:

    Beschränkt sich diese Interessensabwägung nur auf die Familienzusammenführung nach dem AsylG oder wäre sie auch auf jene nach dem NAG übertragbar?

  3. Philip Czech sagt:

    Meines Erachtens nach lassen sich die Ausführungen des EGMR durchaus auf die Interessenabwägung nach § 11 NAG übertragen. Es müsste also auch bei dieser berücksichtigt werden, worauf die mangelnde Selbsterhaltungsfähigkeit zurückzuführen ist.

  4. Philip Czech sagt:

    Der Anpassungsbedarf besteht nicht darin, dass die Nichterfüllung der finanziellen Voraussetzungen nach der bisherigen Judikatur des VwGH stets zur Abweisung des Antrags führen würde, sondern nur darin, dass den Gründen für die fehende Selbsterhaltungsfähigkeit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Im Hinblick darauf erscheint mir die in meinem Beitrag zitierte Judikatur des VwGH recht eindeutig.

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