Recht und Wissenschaft in Österreich

Der Schutz von aus der Ukraine geflüchteten Kindern und Jugendlichen ohne elterliche Fürsorge in Österreich

13. Oktober 2023 in Beiträge
2 Kommentare

Tags: elterliche Fürsorge, Kindeswohl, Obsorge, Ukraine, Vertriebene

Mag.a Birgit Einzenberger

Mag.a Birgit Einzenberger leitet seit September 2011 die Rechtsabteilung des UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) in Österreich. Während des Studiums der Rechtswissenschaften und der Sozialen Arbeit arbeitete sie in einer Rechtsanwaltskanzlei und als Flüchtlingsberaterin. Ihre Tätigkeit für UNHCR begann sie im Jahr 2000. Auslandseinsätze führten sie in die UNHCR-Zentrale nach Genf (2008) sowie nach Kirgistan (2010) und Jordanien (2014).


In den letzten eineinhalb Jahren wurden mehr als 100.000 Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, in Österreich als Vertriebene registriert, darunter auch gänzlich unbegleitete Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, Kinder bzw. Jugendliche in Begleitung von nicht obsorgeberechtigten Verwandten oder Bekannten sowie Kinder im Verbund von Institutionen, wie Kinderheimen. Öffentlich verfügbare Daten zu aus der Ukraine geflüchteten, ohne elterliche Fürsorge in Österreich lebenden Kindern und Jugendlichen liegen nicht vor, aber aus der UN-Kinderrechtskonvention und dem Haager Kinderschutzübereinkommen aus 1996 ergibt sich eine Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfeträger, Maßnahmen zu ihrem Schutz zu treffen.

Kinder ohne elterliche Fürsorge sind regelmäßig einem erhöhten Risiko von Gewalt, Missbrauch und Ausbeutung ausgesetzt. Wenn sie in andere Länder fliehen, vervielfachen sich diese Risiken und auch die Gefahr von Kinderhandel steigt. Es ist deshalb von größter Bedeutung, dass Kindern und Jugendlichen unmittelbar nach ihrem Grenzübertritt sichere Räume zur Verfügung stehen und dass alle Kinder und Jugendlichen, die ohne Eltern(teile) aus der Ukraine fliehen, unverzüglich identifiziert und registriert sowie in das nationale Kinderschutzsystem eingebunden werden.

Artikel 16 der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz sieht diesbezüglich vor, dass die EU-Mitgliedstaaten „so bald wie möglich für die erforderliche Vertretung“ von Minderjährigen sorgen, die nicht von ihren Obsorgeberechtigten begleitet sind und vorübergehenden Schutz genießen. Die Vertretung soll demnach ein gesetzlicher Vormund oder erforderlichenfalls eine Organisation übernehmen, die für die Betreuung und das Wohlergehen der Minderjährigen verantwortlich ist, oder eine andere geeignete Instanz. Da in Österreich allen Personen, die in den Geltungsbereich der Verordnung der Bundesregierung über ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht für aus der Ukraine Vertriebene (VertriebenenVO) fallen, nach ihrer Einreise ex-lege ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zukommt, das derzeit bis 4. März 2024 besteht, kommt die in § 10 Abs. 3 bis 6 BFA-Verfahrensgesetz normierte gesetzliche Vertretung durch Rechtsberater:innen für Verfahren vor dem Bundesamt und dem Bundesverwaltungsgericht für den überwiegenden Teil der aus der Ukraine ohne Obsorgeberechtigte geflüchteten Kinder und Jugendliche nicht zur Anwendung. Auch gibt es keine andere Bestimmung im nationalen Recht zur Umsetzung von Art. 16 der EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz.

Seit Inkrafttreten der Bundes-Verfassungsgesetz Novelle, BGBl. I Nr. 14/2019 am 1. Jänner 2020 kommt den Bundesländern zur Gänze die Gesetzgebungskompetenz für die Angelegenheiten der Kinder- und Jugendhilfe zu. Vor besagter Verfassungsänderung hatte u.a. die Volksanwaltschaft gewarnt,  dass eine „Verländerung“ der Kinder- und Jugendhilfe keine Harmonisierung schaffe, sondern „die Probleme durch noch mehr Aufsplitterung und Ungleichbehandlungen“ verschärfe. Der Umgang mit den aus der Ukraine ohne elterliche Fürsorge geflohenen Kindern und Jugendlichen in Österreich zeigt tatsächlich unterschiedliche Vorgangsweisen zwischen den Bundesländern: Von der wunschgemäßen Meldung aller Fälle durch die für die Erfassung zuständige Landespolizeidirektion an die Kinder- und Jugendhilfe, die in Folge eine Kindeswohlprüfung für jede:n ohne elterliche Fürsorge geflohene:n Minderjährige:n durchführt, bis hin zu einer Information und Einbindung der Kinder- und Jugendhilfe nur in jenen Fällen, in denen es konkrete Hinweise auf eine potenzielle Kindeswohlgefährdung gibt. Eine Übertragung der Obsorge an einen östereichischen Kinder- und Jugendhilfeträger war bislang die Ausnahme.

 

Nichtregierungsorganisationen zufolge wurden verhältnismäßig wenige Fälle von gänzlich unbegleiteten oder durch nicht bevollmächtigte Personen begleiteten Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine bekannt. Die ohne elterliche Fürsorge aus der Ukraine geflüchteten Kinder und Jugendlichen sind großteils in Begleitung von Verwandten oder Bekannten nach Österreich gekommen, denen die Eltern vor der Ausreise eine Pflegevollmacht übertragen hatten und die in Erziehungsfragen aus Österreich regelmäßig Rücksprache mit den Eltern halten. Schließlich haben die Bewohner:innen und Betreuer:innen ganzer „Kinderheime“ samt den zur Obsorge berechtigten, mitreisenden „Direktor:innen” sowie zahlreicher Betreuer:innen in Österreich Schutz gefunden, denn fast 100.000 Kinder leb(t)en Anfang 2022 in der Ukraine in Heimen und Internaten.

Gemäß Art. 23 des Übereinkommens aus 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (Haager Kinderschutzübereinkommen), bei dem sowohl Österreich als auch die Ukraine Vertragsparteien sind, werden die „von den Behörden eines Vertragsstaats getroffenen Maßnahmen […] kraft Gesetzes in den anderen Vertragsstaaten anerkannt“. In der Ukraine gültige Obsorgeübertragungen gelten somit auch in Österreich. Art. 6 des Übereinkommens sieht aber zusätzlich vor, dass „über Flüchtlingskinder und Kinder, die infolge von Unruhen in ihrem Land in ein anderes Land gelangt sind“, […] die „Gerichte oder Verwaltungsbehörden des Vertragsstaats, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat“, zuständig sind, „Maßnahmen zum Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes zu treffen.“ Dies ergibt sich auch aus Art. 22 der UN-Konvention über die Rechte von Kindern.

Aus Sicht von UNHCR bedeutet dies für Österreich, dass die Kinder- und Jugendhilfeträger der Länder für Maßnahmen zum Schutz von ohne elterliche Fürsorge aus der Ukraine nach Österreich geflüchteten Kindern und Jugendlichen zuständig sind. Der Lackmustest dafür wird sein, ob und wie sich die Kinder-und Jugendhilfeträger der Länder in jenen Fällen einschalten werden, in denen die obsorgeberechtigte Direktor:innen trotz anhaltendem Krieg, Unsicherheit, Ungewissheit und einem hohen Bedarf an humanitärer Hilfe mit ihren schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen in die Ukraine zurückkehren wollen. Denn die freiwillige Rückkehr eines Flüchtlingskindes ohne elterliche Fürsorge darf nach Ansicht von UNHCR nur erfolgen, wenn: 1. das Flüchtlingskind und sein(e) Elternteil(e) oder gegebenenfalls sein gesetzlicher Vormund bzw. seine gewohnheitsmäßige Betreuungsperson freiwillig zurückkehren möchten (sollten die Ansichten, Rechte und Wünsche des Kindes, seiner Eltern und/oder seines gesetzlichen Vormunds divergieren, sollte das Kindeswohl formell überprüft werden); 2. die Rückkehr des Kindes in Sicherheit und Würde sowie unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse des Kindes erfolgen kann; und 3. die für den Kinderschutz zuständigen Behörden des Asylstaates festgestellt haben, dass die freiwillige Rückkehr dem Kindeswohl entspricht, und sie dabei die Rechte und Wünsche des Kindes sowie gegebenenfalls der Eltern und, sofern relevant, des Vormunds / der Betreuungsperson, die Sicherheitslage im vorgeschlagenen Rückkehrgebiet, jegliche besonderen Bedürfnisse des Kindes und die dem Kind im Rückkehrgebiet zur Verfügung stehenden Dienste/Unterstützungsangebote berücksichtigt haben. Das Verfahren zur Feststellung, ob die freiwillige Rückkehr dem Kindeswohl entspricht, hängt dabei von einer engen Zusammenarbeit mit den ukrainischen Behörden ab und die Behörden des Asylstaates könnten im Einklang mit den einschlägigen Datenschutzgesetzen Unterstützung bei der Informationsbeschaffung anfordern oder erhalten, einschließlich von den ukrainischen Kinderschutz- und Vormundschaftsbehörden. Wie eine solche Kindeswohlprüfung im österreischischen Kontext durchgeführt werden könnte, wird in der UNHCR-Publikation „Der Kindeswohlvorrang im Asylverfahrenskontext – Rechtliche Grundlagen und Empfehlungen für die Umsetzung in Österreich“ vom Juni 2021 skizziert (vgl. Kapitel 7.3.3.3.).

Die u.a. von IOM, UNICEF und UNHCR geforderte Einführung einer gesetzlichen ex lege Obsorge für unbegleitete Minderjährige auf der Flucht wäre potenziell eine taugliche Grundlage für eine einheitlichere und kinderschutzorientiertere Vorgangsweise bei der Aufnahme dieser besonders vulnerablen Gruppe der Vertriebenen gewesen.


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Kommentare

2 thoughts on "Der Schutz von aus der Ukraine geflüchteten Kindern und Jugendlichen ohne elterliche Fürsorge in Österreich"

  1. Sehr gute Analyse!

    Die Zusammenarbeit zwischen den ukrainischen und österreichischen Sozialbehörden:

    Österreich hat die Haager Konvention ratifiziert: Die Ratifizierung führt zu einer rechtlichen Verpflichtung des ratifizierenden Staates, die Konvention umzusetzen. die Ukraine hat sie nur unterzeichnet.
    Durch die Unterzeichnung einer Konvention drückt ein Staat im Prinzip seine Absicht aus, Vertragspartei der Konvention zu werden. Die Unterzeichnung präjudiziert in keiner Weise das weitere Vorgehen (Ratifizierung oder Nicht-Ratifizierung) dieses Staates.
    Es gibt daher keine Verpflichtung für die Ukraine, mit den Sozialbehörden in Österreich zusammenzuarbeiten.
    Ist das richtig?

  2. Birgit Einzenberger sagt:

    Danke für das Feedback. Zu Ihrer Frage: Es gibt zwei einschlägige Haager Übereinkommen – das Kinderschutzübereinkommen aus 1996, das alle EU-Mitgliedstaaten und die Ukraine ratifiziert haben und auf das dieser Beitrag abstellt und das Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption aus 1993 („Haager Adoptionsübereinkommen“). Letzteres hat die Ukraine nicht ratifiziert. Aus Sicht von UNHCR sollte der zuständige Kinder- und Jugendhilfeträger vor jeglicher Rückkehr von Kindern ohne elterliche Begleitung in die Ukraine eingebunden werden, um sicherzustellen, dass eine allfällige Rückkehr im Kindeswohl ist.

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