Recht und Wissenschaft in Österreich

EuGH: Ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling hat das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern, auch wenn er während des Familienzusammenführungsverfahrens volljährig wird


Auch der volljährigen Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, die aufgrund einer schweren Krankheit vollständig und dauerhaft auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen ist, muss ein Aufenthaltstitel erteilt werden, wenn eine entsprechende Weigerung dazu führen würde, dass diesem Flüchtling das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern genommen würde.

Mit Urteil vom 30. Jänner 2024, Rechtssache C-560/20, entschied der EuGH über ein Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Wien (Österreich) in einem Rechtsstreit zwischen CR, GF, TY und dem Landeshauptmann von Wien in einem Familienzusammenführungsverfahren.

CR und GF, syrische Staatsangehörige, stellten gemeinsam mit ihrer volljährigen Tochter, TY, im April 2017 bei der Österreichischen Botschaft Damaskus ihre Familienzusammenführungsanträge nach § 35 AsylG, um mit ihrem Sohn, RI, dem drei Monate und einen Tag zuvor die Flüchtlingseigenschaft in Österreich zuerkannt worden war, vereint werden zu können. RI war als unbegleiteter Minderjähriger nach Österreich gekommen und war zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Familienzusammenführung nach dem AsylG noch minderjährig. Die Anträge wurden jedoch im Mai 2018 von der Österreichischen Botschaft mit der Begründung abgewiesen, dass RI während des Familienzusammenführungsverfahrens volljährig geworden sei. CR, GF und TY stellten im Juli 2018 erneut Anträge auf Familienzusammenführung mit RI und stützten diese auf § 46 Abs. 1 Z 2 NAG. Im April 2020 wurden auch diese Anträge abgewiesen, weil die Antragstellung nicht innerhalb von drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus an RI erfolgt sei. Die schließlich vom Verwaltungsgericht Wien als zuständige Beschwerdeinstanz im Familienzusammenführungsverfahren vorgelegten Fragen wurden vom EuGH im Wesentlichen wie folgt beantwortet:

  • Der EuGH wiederholt zunächst, dass die Richtlinie 2003/86 (im Folgenden „RL“) für Flüchtlinge günstigere Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung vorsieht. Zudem soll durch Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der RL im Speziellen für Flüchtlinge, die unbegleitete Minderjährige sind, ein stärkerer Schutz gewährleistet werden (Rn. 33). Mit Verweis auf sein Urteil vom 12. April 2018, A und S (C-550/16) stellt der EuGH weiter klar, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling ein Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern hat, auch wenn er im Laufe des Familienzusammenführungsverfahrens volljährig wird. „Die praktische Wirksamkeit von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 würde nämlich in Frage gestellt, wenn das Recht auf Familienzusammenführung aus dieser Bestimmung davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über die Anerkennung des Betroffenen als Flüchtling entscheidet, und damit von der mehr oder weniger schnellen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch diese Behörde“ (Rn. 35). Folglich kann ein Familienzusammenführungsantrag nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass der betreffende Flüchtling zum Zeitpunkt der Entscheidung über diesen Antrag nicht mehr minderjährig ist (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 1. August 2022, C-273/20 und C-355/20).
  • Zudem stellt der Gerichtshof fest, dass Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, der im Laufe des Familienzusammenführungsverfahrens volljährig wird, nicht dazu verpflichtet sind, den Familienzusammenführungsantrag iSv Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der RL innerhalb einer bestimmten Frist zu stellen (Rn. 43). Eine Frist kann nämlich „nicht zu laufen beginnen, bevor der betreffende Flüchtling volljährig wird“ (Rn. 40).
  • Der EuGH beschäftigt sich weiter mit der Frage, ob der volljährigen Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, die aufgrund einer schweren Krankheit vollständig und dauerhaft auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen ist, ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss, wenn eine entsprechende Weigerung dazu führen würde, dass diesem Flüchtling das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern genommen würde. In diesem Zusammenhang führt der EuGH zunächst aus, dass die Bestimmungen der RL im Lichte des Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens) und des Art. 24 Abs. 2 (Kindeswohlvorrang) und Abs. 3 (Erfordernis regelmäßiger persönlicher Beziehung eines Kindes zu beiden Elternteilen) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgelegt und angewandt werden müssen (Rn. 50). Zudem erlegt Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der RL den Mitgliedstaaten „eine präzise positive Verpflichtung auf, der ein klar definiertes Recht gegenübersteht“ (Rn. 52). Mit Blick auf den vorliegenden Fall hält der EuGH fest, dass TY, die Schwester von RI, an Zerebralparese leidet und permanent auf einen Rollstuhl sowie auf Unterstützung bei der täglichen Körperpflege und bei der Nahrungsaufnahme durch ihre Eltern angewiesen ist. Den Eltern ist es demnach nicht möglich ist, zu ihrem Sohn nach Österreich zu ziehen, ohne ihre Tochter mitzunehmen. „Der Schwester von RI einen Einreise- und Aufenthaltstitel zu erteilen, ist daher das einzige Mittel, um es RI zu ermöglichen, sein Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern auszuüben“ (Rn. 55). Folglich kommt der EuGH zum Schluss, dass Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der RL dahin auszulegen ist, „dass danach der volljährigen Schwester eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, die Staatsangehörige eines Drittstaats ist und aufgrund einer schweren Krankheit vollständig und dauerhaft auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen ist, ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss, wenn die Weigerung, diesen Aufenthaltstitel zu erteilen, dazu führen würde, dass diesem Flüchtling das ihm durch diese Bestimmung verliehene Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern genommen würde“ (Rn. 61).
  • Schließlich hält der EuGH fest, dass die Mitgliedstaaten, wenn Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings einen Familienzusammenführungsantrag mit diesem nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der RL stellen, weder von diesem Minderjährigen noch von seinen Eltern verlangen dürfen, dass sie die in Art. 7 Abs. 1 dieser RL genannten Voraussetzungen (d.h. ortsüblicher Wohnraum, ausreichend Einkünfte, Krankenversicherung) erfüllen, „und zwar unabhängig davon, ob der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Frist gestellt wurde“ (Rn.80). Dies gilt im vorliegenden Fall auch in Bezug auf die Schwester TY (Rn. 78, 79).

Siehe auch UNHCR-Stellungnahme vom 22. Juni 2021

Bearbeitet von: Mag.a Sarah Mackenzie


Twitter Facebook Linkedin Email Print Whatsapp Telegram

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Weitere Beiträge

22. Dezember 2022 von Blog Asyl in Rechtsprechung

EuGH: Familienzusammenführung auch für verheiratete Minderjährige möglich

Ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der sich in einem Mitgliedsstaat aufhält, muss nicht unverheiratet sein, um zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinen Eltern die Rechtsstellung eines Zusammenführenden zu erlangen (EuGH 17.11.2022, C-230/21).

Mehr lesen

17. August 2022 von Blog Asyl in Rechtsprechung

EuGH: Familienzusammenführung auch möglich, wenn antragstellendes Kind vor Flüchtlingsanerkennung des Elternteils volljährig wurde

Die Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung eines Kindes mit seinem Vater, das volljährig geworden ist, bevor sein Vater als Flüchtling anerkannt wurde und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung, verstößt gegen das Unionsrecht.

Mehr lesen