Mit Urteil vom 4. Oktober 2024 entschied der EuGH in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 über zwei Vorabentscheidungsersuchen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs, betreffend die Fälle einer afghanischen Frau und eines afghanischen Mädchens, denen keine Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Beide brachten in ihren Beschwerden vor dem BVwG vor, westliche Werte und einen westlich orientierten Lebensstil übernommen zu haben und dass Frauen, seit der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 weitreichender Verfolgung ausgesetzt seien. Die Beschwerden wurden als unbegründet abgewiesen. In den Revisionen an den VwGH wurde erneut geltend gemacht, „dass allein schon die Situation der Frauen unter dem neuen Taliban-Regime die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertige.“ (Rn 24) Der VwGH stellte fest, dass afghanische Frauen zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ iSd Art. 10 Abs. 1 lit. D StatusRL gehören, die Verfolgungshandlungen aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt sein könnten. Zusammengefasst stellte der VwGH dem EuGH daher die folgenden Fragen:
1) Können diskriminierende Maßnahmen wie unter anderem das Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, Zwangsverheiratungen, die Verpflichtung, den Körper vollständig zu bedecken und das Gesicht zu verhüllen, die Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen und der Bewegungsfreiheit, das Verbot oder die Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, die Verwehrung des Zugangs zu Bildung, das Verbot, Sport auszuüben, und die Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben, in ihrer Gesamtheit als Verfolgungshandlung eingestuft werden?
2) Ist es im Rahmen der individuellen Prüfung des Asylantrags ausreichend, das Geschlecht zu berücksichtigen oder ist stets zu prüfen, ob die Person von den kumulierenden Maßnahmen betroffen ist?
Zur ersten Frage hält der EuGH fest, dass bereits „einige dieser Maßnahmen für sich genommen als „Verfolgung“ […] einzustufen sind“ (Rn 43). “Wenn man zum anderen annimmt, dass die diskriminierenden Maßnahmen gegen Frauen, die den Zugang zur Gesundheitsfürsorge, zum politischen Leben und zur Bildung sowie die Ausübung einer beruflichen oder sportlichen Tätigkeit einschränken, die Bewegungsfreiheit behindern oder die Freiheit, sich zu kleiden, beeinträchtigen, für sich genommen keine ausreichend schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts […] darstellen, beeinträchtigen diese Maßnahmen in ihrer Gesamtheit Frauen in einer Weise, dass sie den Schweregrad erreichen, der erforderlich ist, um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 darzustellen.” Aufgrund der “kumulativen Wirkung und [der] bewussten und systematischen Anwendung [dieser Maßnahmen, werden] […] afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten […]. Diese Maßnahmen zeugen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in ihrem Herkunftsland verwehrt wird.” (Rn 44) Art. 9 Abs. 1 lit. b StatusRL ist folglich dahingehend auszulegen, dass unter den Begriff „Verfolgungshandlung“ eine Kumulierung an frauendiskriminierenden Maßnahmen fällt.
Im Hinblick auf die zweite Frage, verweist der EuGH u.a. auf die Schlussfolgerungen in Bezug auf afghanische Frauen und Mädchen in der EUAA „Country Guidance: Afghanistan“ aus Januar 2023 sowie die in der vorliegenden Rechtssache ergangene UNHCR-Stellungnahme vom 25. Mai 2023, wonach bei „afghanische Frauen und jungen Mädchen wegen der von den Taliban allein aufgrund ihres Geschlechts gegen sie begangenen Verfolgungshandlungen die Vermutung einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bestehe.“ (Rn 56) Folglich können Mitgliedstaaten bei Anträgen auf internationalen Schutz, die von afghanischen Frauen gestellt werden, „davon ausgehen, dass es derzeit nicht erforderlich ist, bei der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin auf internationalen Schutz festzustellen, dass diese bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, sofern die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage wie ihre Staatsangehörigkeit oder ihr Geschlecht erwiesen sind.“ (Rn 57) Nationale Behörden sind demnach nicht verpflichtet, im Rahmen der individuellen Prüfung des Asylantrags einer afghanischen Frau andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen.
Siehe im Detail zu den Vorabentscheidungsersuchen hier und hier.
Bearbeitet von: Dr.in Sibel Uranüs, LL.M