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OGH: Pflegegeld für Vertriebene

OGH 10 ObS 62/23z vom 22.8.2023


Mit Beschluss vom 22.8.2023 entschied der Oberste Gerichtshof, dass Personen, die vorübergehenden Schutz nach der MassenzustromRL genießen, bei Erfüllen aller Anspruchsvoraussetzungen, Pflegegeld beziehen können.

 

Die in der Ukraine geborene Klägerin kam am 28.3.2022 aus dem ukrainischen Kriegsgebiet nach Österreich. Sie und ihre Mutter verfügen über einen vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ausgestellten Ausweis für Vertriebene.

Aus der Ukraine Vertriebene sind von der Grundversorgung erfasst (vgl Haller/Binder, Vertriebene aus der Ukraine und das österreichische Asylsystem – Einordnung und Vergleich, BlogAsyl, 9. 6. 2022, unter „3.3. Versorgung“). Im Bereich der Krankenversicherung wurden sie in die Verordnung über die Durchführung der Krankenversicherung für die gemäß § 9 ASVG in die Krankenversicherung einbezogenen Personen aufgenommen (BGBl II 2022/104). Darüber hinaus haben die im Sinn der VertriebenenV aus der Ukraine vertriebenen Personen für die Dauer des vorübergehenden Schutzes Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld (§ 2 Abs 1 Z 5 lit d KBGG) und Familienbeihilfe (§ 3 Abs 7 FLAG).

Gegenstand dieses Revisionsverfahrens war die Frage, ob die Klägerin als Inhaberin eines Ausweises für Vertriebene auch zum Kreis der anspruchsberechtigten Personen für Pflegegeld nach § 3a Abs 2 BPGG gehört, der aufgrund des Unionsrechts österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt ist.

Zu betrachten sind im vorliegenden Fall im Rahmen der vorzunehmenden allseitigen rechtlichen Prüfung die MassenzustromRL in Verbindung mit dem im Sinn des Art 5 MassenzustromRL ergangenen Durchführungsbeschluss sowie die StatusRL.

Art 13 MassenzustromRL lautet:

„Abs 1 […]

Abs 2: Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Personen, die vorübergehenden Schutz genießen, die notwendige Hilfe in Form von Sozialleistungen und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie im Hinblick auf die medizinische Versorgung erhalten, sofern sie nicht über ausreichende Mittel verfügen. Unbeschadet des Absatzes 4 umfasst die notwendige Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung mindestens die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten.

Abs 3: […]

Abs 4: Die Mitgliedstaaten gewähren Personen, die vorübergehenden Schutz genießen und besondere Bedürfnisse haben, beispielsweise unbegleitete Minderjährige oder Personen, die Opfer von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schwerwiegenden Formen psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt geworden sind, die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe.“

Das Berufungsgericht erachtete im vorliegenden Fall die „notwendige Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung“ gemäß Art 13 Abs 2 MassenzustromRL als einschlägig. Das Pflegegeld sah es als von der Verpflichtung des Schutz gewährenden Mitgliedstaats nicht erfasst an, weil die notwendige Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung – als Mindeststandard – nur die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten zu umfassen hat (Art 13 Abs 2 Satz 2 MassenzustromRL), worunter es das Pflegegeld nicht subsumierte. Auch von der „erforderlichen medizinischen oder sonstigen Hilfe“ gemäß Art 13 Abs 4 MassenzustromRL sah es das Pflegegeld nicht als erfasst an.

Im vorliegenden Fall kommt es aber gar nicht darauf an, ob das Pflegegeld von der „notwendige[n] Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung“ oder der „notwendige[n] Hilfe in Form von Sozialleistungen“ gemäß Art 13 Abs 2 MassenzustromRL erfasst ist, weil Art 13 Abs 4 MassenzustromRL eine Sonderregelung für Personen enthält, die vorübergehenden Schutz genießen und besondere Bedürfnisse haben: Diese Personen haben nach Art 13 Abs 4 MassenzustromRL einen Anspruch auf „die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe“, die nach der ausdrücklichen Anordnung des Art 13 Abs 2 Satz 2 MassenzustromRL jedenfalls über den Mindeststandard der „notwendige[n] Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung“ hinausgeht.

Die Aufzählung der Personen mit besonderen Bedürfnissen in Art 13 Abs 4 MassenzustromRL ist demonstrativ ausgestaltet („beispielsweise“). Sie unterstellt den darin aufgezählten Personengruppen – unbegleiteten Minderjährigen sowie Personen, die besondere Formen von Gewalt erlebt haben – typisiert einen gesteigerten Hilfsbedarf. Ein besonderer Hilfsbedarf besteht aber – unabhängig von den diesem Bedarf zugrunde liegenden Gründen – auch bei Personen, die aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung einen ständigen Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) im Sinn des § 4 Abs 1 BPGG haben. Diese Personengruppe ist daher von Art 13 Abs 4 MassenzustromRL erfasst. Für die Beurteilung der Frage, ob es sich beim Pflegegeld um eine im Sinn des Art 13 Abs 4 MassenzustromRL „erforderliche“ Hilfe handelt, ist auf die Wertungen zurückzugreifen, die der Rechtsprechung zur Einbeziehung von subsidiär Schutzberechtigten in den anspruchsberechtigten Personenkreis gemäß § 3a BPGG zugrunde liegen (10 ObS 153/13t SSV-NF 27/87; 10 ObS 161/13v DRdA 2014/44, 435 [Windisch-Graetz/ Mrvosevic]; 10 ObS 1/14s; 10 ObS 3/14k). Danach zählt das Pflegegeld zu den „Kernleistungen“ bei Krankheit im Sinn des Art 29 Abs 2 StatusRL aF (RL 2004/83/EG).

Diese Wertung als „Kernleistung“ ist auch ausschlaggebend dafür, das Pflegegeld im vorliegenden Zusammenhang als Leistung anzusehen, die für die Gruppe der pflegebedürftigen Personen als „erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe“ im Sinn des Art 13 Abs 4 MassenzustromRL zu qualifizieren ist.

Dies gebietet eine Auslegung des § 3a Abs 2 Z 1 BPGG, die dem durch das Unionsrecht gebotenen Ergebnis gerecht wird; die definierte Personengruppe ist daher im Hinblick auf den Anspruch auf Pflegegeld aufgrund unionsrechtlicher Erwägungen den österreichischen Staatsbürgern gleichzustellen.

Personen, die vorübergehenden Schutz nach der MassenzustromRL genießen, zählen zu dem gemäß § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfassten Personenkreis und haben daher bei Erfüllung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen einen Anspruch auf Pflegegeld.

Bearbeitet vom Readaktionsteam des Blog Asyl


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