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Wehrdienstverweigerung als Asylgrund? Eine Analyse vor dem Hintergrund der Teilmobilmachung in der Russischen Föderation

5. Dezember 2022 in Beiträge
1 Kommentare

Tags: Desertion, Russische Föderation, Ukraine, UNHCR-Richtlinien, Wehrdienst, Wehrdienstverweigerung

Dr.in Sibel Uranüs, LL.M.

Dr.in Sibel Uranüs, LL.M. (Columbia) ist Mitbegründerin des Blog Asyl und in der Rechtsabteilung von UNHCR Österreich tätig, wo sie u.a. zu Fragen des internationalen Flüchtlingsschutzes bei Fortbildungsveranstaltungen für Rechtsberater:innen, Richter:innen und Referent:innen des BFA vorträgt.


Die Teilmobilmachung russischer Staatsangehöriger löste in den vergangenen Monaten einen merkbaren Anstieg an Ausreisen in Nachbarländer aus, der in Finnland sogar zu einer Grenzschließung für Tourist:innen und in Polen zur Ankündigung einer Abschaffung von Touristenvisa für Bürger:innen der Russischen Föderation führte. Indessen wurde in der Russischen Föderation ein Gesetz erlassen, wonach Wehrdienstverweigerern nunmehr bis zu 15 Jahre Haft drohen. Unter welchen Umständen Deserteure und Kriegsdienstverweigerer als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention erachtet werden sollten, wird in den UNHCR-Richtlinien Nr. 10 festgelegt und soll im folgenden Beitrag genauer beleuchtet werden.

Das Recht auf Selbstverteidigung vs. das Recht auf Verweigerung des Militärdienstes

Staaten haben das Recht auf Selbstverteidigung (siehe Art 51 der UN-Charta als auch das Völkergewohnheitsrecht) und können hierzu auch die Ableistung von Militärdienst verlangen und dessen Verweigerung unter Strafe stellen. Demgegenüber steht allen Menschen das aus Art. 18 AEMR, Art. 18 ICCPR und Art 9 EMRK abgeleitete Recht auf Verweigerung des Militärdienstes zu, wenn die Verweigerung „religiös, moralisch, ethisch, humanitär oder ähnlich motivierten Grundsätzen und Gewissensgründen sowie auch tief empfundenen Überzeugungen entspringt“ (UN-Menschenrechtskommission, Resolution 1998/77).

Das Recht auf Wehrpflichtverweigerung gilt nur dann als gewahrt, wenn ein Ersatzdienst anstelle des Pflichtwehrdienstes (Zivildienst) offensteht oder eine Befreiung von der Wehrpflicht erfolgen kann. Wie ein Ersatzdienst ausgestaltet sein muss, hängt u.a. von den Motiven der Verweigerung aus Gewissensgründen ab. Zudem muss er nichtmilitärisch und im öffentlichen Interesse sein und darf keinen strafenden Charakter haben. Personen, die kategorisch jede Verbindung zum Militär ablehnen, müssen daher die Möglichkeit haben, ihn in einer z.B. zivilen Verwaltungsdienstelle ableisten zu können. Will eine Person bloß keine Waffen tragen, kommt auch ein nichtmilitärscher Dienst beim Militär (zB Koch) infrage. Wird ein bestehender Ersatzdienst nicht in Anspruch genommen und ist die Verweigerung nicht durch Gewissensgründe motiviert, so können Staaten auch Strafen verhängen, sofern diese und damit verbundene Verfahren im Einklang mit internationalen Standards stehen (EGMR 12.06.2012, Savda gg. Türkei 42730/05 sowie UNHCR-Richtlinien Nr. 10, Rn 5). Stehen der Ersatzdienst oder die drohende Strafe bei einer Verweigerung des Militärdienstes jedoch im Widerspruch mit völkerrechtlichen Normen, so kann dies unter Umständen eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen, wegen der internationaler Schutz zu gewähren ist. Dies ist immer im Einzelfall zu beurteilen. Ein Ersatzdienst kann beispielsweise Verfolgung darstellen, wenn seine Art und Durchführung oder übermäßige Dauer Strafcharakter haben. Gleichsam können unverhältnismäßige Strafen oder völkerrechtswidrige Handlungen – wie etwa unverhältnismäßige lange Haft oder Folter – eine asylrelevante Verfolgung darstellen. Bei der Beurteilung, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung vorliegt, sind auch allfällige indirekte negative Konsequenzen der Verweigerung des Militärdienstes, wie etwa die Aussetzung des Rechts auf Landerwerb, Schikanen durch die Gemeinschaft oder die Verweigerung des Zugangs zu Bildungseinrichtungen, zu berücksichtigen (UNHCR-Richtlinien Nr. 10, Rn 15). Zur aktuellen Situation und Rechtslage seit der Teilmobilmachung in der Russischen Föderation und Änderungen im Strafgesetzbuch siehe u.a. das ACCORD-Themendossier auf ecoi.net.

Begründung der Verweigerung des Militärdienstes

Verschiedene Motive können „Gewissensgründe“ für die Ablehnung des Wehrdienstes begründen. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn eine Person jede Anwendung von bewaffneter Gewalt ablehnt („Pazifist“) oder wenn die Person die Anwendung nur unter bestimmten Umständen als berechtigt erachtet (sog. „teilweise Verweigerung“).

Zudem kann die Ablehnung des Wehrdienstes auch aufgrund der Völkerrechtswidrigkeit des konkreten bewaffneten Konflikts (jus ad bellum) oder der Ablehnung der Mittel und Methoden der Kriegsführung (jus in bello) eine asylrelevante Furcht vor Verfolgung darstellen. Bei der Beurteilung der Völkerrechtswidrigkeit oder Rechtsmäßigkeit eines Konflikts, ist die „Verurteilung durch die Staatengemeinschaft ein starkes Indiz“ (UNHCR-Richtlinien Nr. 10, Rn 24). In diesem Zusammenhang kann in Erinnerung gerufen werden, dass die UN-Generalversammlung bereits im März 2022 die Invasion der Ukraine als Verletzung von Artikel 2 (4) UN Charter (siehe Punkt 2 der Resolution A/ES-11/L.1) einstufte. Auch verurteilte der UN-Menschenrechtsrat aus der russischen Aggression gegen die Ukraine resultierende Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts (siehe S. 2 der Resolution A/HRC/S-34/L.1). Zudem ergaben die kürzlich veröffentlichten ersten Ergebnisse der zur Untersuchung der Kriegsverbrechen in der Ukraine eingesetzten, unabhängigen Untersuchungskommission, dass Kriegsverbrechen begangen worden sind. Der Umstand, dass eine Verweigerung von Aktivitäten, die das humanitäre Völkerrecht, internationale Strafrecht oder Menschenrechte verletzen, zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen sollte, spiegelt die Ausschlussklauseln des Art 1 F (a) und (c) der GFK wider, wonach Personen von internationalem Schutz ausgeschlossen werden, wenn sie eben solche Aktivitäten gesetzt haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der:die Schutzsuchend:e nachweisen muss, im Falle eines Militärdienstes an Handlungen, die eine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen würden, beteiligt zu sein. Aus Sicht des EuGH (26.2.2015, C-472/13, Shepherd gg. Deutschland, Rn 37), kann ein solches Vorbringen sich auch auf indirekte Beteiligung (z.B. durch logistische oder andere Unterstützung) stützen, „wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde“ (Rn 46).

Fußt die Wehrdienstentziehung lediglich auf der Angst vor Kampfhandlungen und keiner inneren Überzeugung, so hat dies keine Asylrelevanz. Anders ist dies zu beurteilen, wenn die Bedingungen des Militärdienstes beispielsweise grausamer oder unmenschlicher Behandlung gleichkämen. In diesem Zusammenhang wären auch insbesondere Diskriminierung von Minderheiten u.ä. relevant.

Asylrelevanz

Bei der inhaltlichen Beurteilung von Asylanträgen von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren ist – wie bei Asylanträgen generell – zunächst die Frage zu beurteilen, welche Konsequenzen dem:der Betroffenen bei einer Rückkehr drohen (Ersatzdienst oder Strafe bzw Art und Weise, wie die Wehrpflicht durchgesetzt wird; Behandlung von bestimmten Personengruppen etc). Im Hinblick auf den Grund für die Ablehnung des Wehrdienstes sind die Umstände, die zur Ablehnung führten, zu untersuchen. Abhängig vom Einzelfall kann das Vorbringen im Zusammenhang mit Wehrdienstverweigerung bzw Desertion eine asylrelevante Furcht vor Verfolgung aufgrund der hierdurch (möglicherweise unterstellten) politischen Überzeugung, Religion, Zugehörigkeit einer sozialen Gruppe und/oder ethnischen Zugehörigkeit begründen. Es genügt allerdings, „dass der Konventionsgrund als relevanter Faktor zur Verfolgung beiträgt; es ist nicht notwendig, dass er der einzige oder auch nur hauptsächliche Grund ist“ (UNHCR-Richtlinien Nr. 10, Rn 47). Die Verweigerung des Militärdienstes aus den o.g. Gründen und bei Fehlen eines Ersatzdienstes wird typischerweise einen Nexus zum Konventionsgrund der politischen Überzeugung aufweisen (vgl dazu auch EuGH 19.10.2020, C‑238/19, EZ gegen Bundesrepublik Deutschland, Rn 47), da Behörden die Verweigerung der Teilnahme an Kriegshandlungen als „eine Demonstration einer auf der politischen Einstellung der Person gründenden Ablehnung ihrer Politik sehen“ (UNHCR-Richtlinien Nr. 10, Rn 52). Auch das Vorgehen gegen Wehrdienstverweigerung durch besonders schwere Sanktionen, wie etwa lange Haftstrafen, zeigt den „starke[n] Wertekonflikt oder [den] Konflikt politischer oder religiöser Überzeugungen zwischen dem Betroffenen und den Behörden des Herkunftslandes“ deutlich auf (EZ gegen Bundesrepublik Deutschland, Rn 59). Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Verfügbarkeit einer innerstaatliche Fluchtalternative in der Regel auszuschließen ist, da grundsätzlich davon auszugehen ist, dass staatliche Stelle das ganze Territorium des Landes kontrollieren und erreichen können (UNHCR-Richtlinien Nr. 10, Rn 60).


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Kommentare

One thought on "Wehrdienstverweigerung als Asylgrund? Eine Analyse vor dem Hintergrund der Teilmobilmachung in der Russischen Föderation"

  1. Robert Ensor sagt:

    You fail to mention that gender-selective conscription (male-only conscription in the case of Russia) is a human-rights violation under the ICCPR (see https://bit.ly/45Mk2UV). It is arguably also a form of gender persecution, a crime against humanity under the Rome Statute. Both would seem to me to be grounds for asylum.

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