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EuGH: Zuerkennung von Asyl aufgrund von in einem Folgeantrag geltend gemachten „selbst geschaffenen“ Umständen darf nicht davon abhängen, dass diese Umstände Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung sind


Mit Urteil vom 29. Februar 2024, Rechtssache C-222/22, entschied der EuGH über ein Vorabentscheidungsersuchen des VwGH zur Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie), das aus Anlass des § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 gestellt wurde, demzufolge bei in einem Folgeantrag geltend gemachten subjektiven Nachfluchtgründen „in der Regel“ kein Asyl zuerkannt werde, außer es handle sich um fortgesetzte Nachfluchtaktivitäten.

Der Vorlagefrage liegt ein Folgeantragsverfahren eines iranischen Staatsangehörigen zu Grunde, der sich darin auf seine zwischenzeitliche Konversion zum Christentum stützte. Das BFA wies den Antrag hinsichtlich Asyl unter Hinweis auf § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 ab. Anlässlich der gegen die Zuerkennung von Asyl durch das BVwG erhobenen Amtsrevision des BFA ersuchte der VwGH um Klärung, ob die nationale Regelung des § 3 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 mit den Vorgaben der Statusrichtlinie vereinbar ist.

Der EuGH misst der Bestimmung des Art. 5 Abs. 3 Statusrichtlinie explizit Ausnahmecharakter zu, indem er auf die übrigen Absätze des Art. 5 sowie dessen Regelungszusammenhang Bezug nimmt. Daraus ergebe sich zum einen, dass die Statusrichtlinie unter Beachtung der GFK auszulegen sei. Zum anderen bedeute die Verwendung des Begriffs „insbesondere“ in dem für alle Anträge auf internationalen Schutz geltenden Art. 5 Abs. 2 Statusrichtlinie, dass sich Antragsteller auch im Rahmen eines Folgeantrags grundsätzlich auch auf Aktivitäten berufen könnten, die nicht Ausdruck und Verlängerung einer im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung seien.

Mit diesen Ausführungen ist für die Rechtsanwender:in zunächst nicht viel Konkretes gewonnen. Im Wesentlichen lässt sich daraus bloß ableiten, dass Mitgliedstaaten, die von der ihnen in Art. 5 Abs. 3 Statusrichtlinie eingeräumten Befugnis Gebrauch machen, diese eng zu fassen haben und es nicht von vornherein ausgeschlossen ist, die Flüchtlingseigenschaft auf Grund einer in einem Folgeantrag geltend gemachten Konversion, die nicht auf eine bereits im Herkunftsstaat bestehende Überzeugung zurückgeht, zuzuerkennen (vgl. insb. Rn. 26-29).

Konkreter wird es, als der EuGH auf das Ziel eingeht, das mit einer auf Art. 5 Abs. 3 gestützten Weigerung, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, verfolgt wird. In Anbetracht der Vorsätzlichkeit, die in der Wendung „selbst geschaffene Umstände“ zum Ausdruck komme, ziele diese Weigerung darauf ab, eine Missbrauchsabsicht der Antragstellerin zu ahnden, welche die Umstände „durch eigenes Zutun erzeugt“ und damit das anwendbare Verfahren instrumentalisiert habe.

Ob dies der Fall ist, also die im Folgeantrag geltend gemachten Umstände von einer solchen Missbrauchsabsicht getragen sind, erfordert laut EuGH eine individuelle Prüfung des Antrags, die alle relevanten Tatsachen zu berücksichtigen hat. Diese Frage stelle nur einen Aspekt (lit. d) im Rahmen einer umfassenden Prüfung aller Umstände des konkreten Falls dar, der anhand der in Art. 4 Abs. 3 lit. a bis e genannten Punkte zu prüfen sei.

Damit schiebt der EuGH jeglichem Automatismus im Zusammenhang mit der Prüfung solcher Anträge einen Riegel vor: Weder sind die nationalen Behörden durch die fakultative Umsetzung des Art. 5 Abs. 3 Statusrichtlinie von einer individuellen Prüfung des Antrags befreit, noch dürfen sie eine vom Antragsteller zu widerlegende Vermutung einer Missbrauchsabsicht aufstellen (vgl. insb. Rn. 32-37).

Umgelegt auf das Ausgangsverfahren bedeutet dies für den EuGH, dass im Falle des Zutreffens der Feststellung des BFA, wonach der Betroffene aufgrund des aus innerer Überzeugung erfolgten Wechsels seiner Religion, die er aktiv lebe, im Iran einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sei, die Annahme einer Missbrauchsabsicht ausgeschlossen ist (Rn. 38).

Was gilt jedoch, wenn nach einer individuellen Prüfung das Vorliegen einer Missbrauchsabsicht festgestellt wird? In diesen Fällen ermögliche Art. 5 Abs. 3 Statusrichtlinie es, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft trotz begründeter Furcht vor Verfolgung, auf Grund derer er als Flüchtling im Sinne der GFK und des Art. 2 lit. d Statusrichtlinie zu qualifizieren wäre, nicht zuzuerkennen. Der EuGH trifft hier also eine Unterscheidung zwischen der Eigenschaft als Flüchtling im Sinne der GFK sowie des Art. 2 lit. d Statusrichtlinie einerseits und der förmlichen Anerkennung der Eigenschaft als Flüchtling durch die Gewährung der „Flüchtlingseigenschaft“ im Sinne von Art. 2 lit. e Statusrichtlinie andererseits. Die in Art. 13 Statusrichtlinie vorgesehene Verpflichtung von Mitgliedstaaten, Flüchtlingen im Sinne von Art. 2 lit. d die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 2 lit. e zuzuerkennen, wird vom EuGH somit nur auf Antragsteller ohne Missbrauchsabsicht erstreckt (vgl. Rn. 39-40).

Anknüpfend an diese Unterscheidung gibt der EuGH aber auch zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten bei der Handhabung ihrer durch Art. 5 Abs. 3 eingeräumten Befugnis die GFK zu berücksichtigen haben. Unter Heranziehung verschiedensprachiger Fassungen der Statusrichtlinie legt er den Ausdruck „unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ aus, zu dem auch der UNHCR im Vorfeld der Entscheidung Stellung nahm. Nach Ansicht des EuGH gebiete dieser Ausdruck, dass auch eine Antragstellerin mit Missbrauchsabsicht die durch die GFK vorbehaltlos zu gewährleistenden Rechte in Anspruch nehmen könne. Das bedeutet für den EuGH, dass einer solchen Antragstellerin auch der Schutz vor Ausweisung oder Zurückweisung im Sinne des Art. 33 Abs. 1 GFK zuteil werden muss, sollte sie bei ihrer Rückkehr einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein (vgl. insb. Rn. 43-44).

Bearbeitet von: Mag.a Stefanie Haller, BA


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